Im Pokalfinale vor 50 Jahren Die Diva und der Dickschädel: Als Günter Netzer sich selbst einwechselte

Von Harald Pistorius | 22.06.2023, 13:35 Uhr 4 Leserkommentare

Der eine war der Star, der sich selbst einwechselte. Der andere war der Trainer, der sich mit den Stars stritt. Vor 50 Jahren schrieben Günter Netzer und Hennes Weisweiler das berühmteste Kapitel ihrer Hassliebe - im DFB-Pokalfinale, das damals wie heute als das beste aller Zeiten gilt. 

Es war das Duell der rheinischen Rivalen. Der 1. FC Köln, der seinen Ruf als moderner Vorzeigeklub zehn Jahre nach dem Gewinn der ersten Bundesligameisterschaft mit einem Titel aufpolieren wollte, traf auf Borussia Mönchengladbach. Der kleine Club aus der kleinen Stadt in der niederrheinischen Provinz war mit mitreißendem Offensivfußball zum Sympathieträger der Fußballnation geworden.

Das Schauspiel auf der Bühne des gerade für die Weltmeisterschaft 1974 in eine herrliche Arena für 70000 Zuschauer umgebauten Rheinstadions begann an diesem 23. Juni 1973 mit einem Pfeifkonzert - vor dem Anpfiff. Es waren die Gladbacher Fans, die es nicht fassen konnten, dass Günter Netzer nicht aufgestellt worden war. 

„Ohne Netzer sind wir eine gute Mannschaft, mit ihm sind wir genial.“
Hennes Weisweiler
Trainer Borussia Mönchengladbach

Der Star nicht dabei, der Kopf der deutschen Nationalmannschaft, die ein Jahr vorher mit einigen rauschhaften Vorstellungen Europameister geworden war, auf der Reservebank - und das in seinem allerletzten Spiel für die Borussia. Nicht berücksichtigt von dem Trainer, der den Wert des Spielmachers so beschrieben hatte: “Ohne Netzer sind wir eine gute Mannschaft. Mit ihm sind wir genial.” 

Zehn Tage zuvor war bekannt geworden, dass die Borussia künftig ohne ihn auskommen musste. Der Sensationstransfer füllte die Zeitungsseiten im ganzen Land. In Spanien war gerade die Ausländersperre gefallen, erstmals seit 1962 durften die Vereine wieder internationale Stars verpflichten. Und das große, stolze Real, gerade gedemütigt durch den Titelgewinn des Lokalrivalen Atletico, wollte eine Duftmarke setzen - um jeden Preis. 

Der war hoch: 1,3 Millionen DM Ablöse kassierte die Borussia; es war die Zeit, in der jeder Spieler, der einen Verein verließ, eine Transferentschädigung brachte, unabhängig von seiner Vertragssituation. Eine Million DM Handgeld soll Netzer kassiert haben, seine Jahresgage: 350000 DM. Heute lächerlich, damals selbst für einen Star wie Netzer eine stolze Summe. 

Und diesen Mann, seinen Kapitän, stellte Weisweiler im Pokalfinale nicht auf? Nach zehn Jahren einer Zusammenarbeit, die ihr persönliches Verhältnis zwar zu einer Hassliebe werden ließ, die aber Sternstunden des Fußballs erzeugt und einen Provinzklub zu eine der besten Adressen des Weltfußballs gemacht hatte? 

„Es gab objektiv gute Gründe, mich nicht aufzustellen.“
Günter Netzer
Spielmacher, Borussia Mönchengladbach

“Es gab objektiv gute Gründe, mich nicht aufzustellen”. So schreibt es Netzer selbst in seiner Biographie in der ihm eigenen Ehrlichkeit. Viel schwerer als der Wirbel um den Wechsel nach Madrid wiegt der Tod seiner Mutter Barbara neun Tage vor dem Finale. Netzer setzt eine Woche mit dem Training aus; er ist nicht fit und plagt sich mit einer Verletzung.

Ihn ärgert, dass Weisweiler ihn gar nicht beachtet, nicht mit ihm spricht. Der Trainer, dem man wegen seines Dickschädels und seiner polternden Art früh den Spitznamen „Dä Buur“ (der Bauer) verpasst hat, ist sauer, dass ihn sein Star nicht in die Wechselpläne eingeweiht hat. Erst am Vormittag des Finaltages sagt er ihm beim Spaziergang in Trainingslager in Süchteln: „Ich werde dich nicht aufstellen.“ Netzer antwortet: „Das ist eine mutige Entscheidung.“ Dann geht er auf sein Zimmer, packt seine Tasche und verabschiedet sich von seinen Teamkollegen: „Ich geh´ dann mal. Ich wünsche euch viel Glück, heute und auch weiterhin.“

Die Mitspieler sind entsetzt, versuchen ihn zu überreden. Sein Freund Berti Vogts zeigt Verständnis; er weiß seit schon, dass Netzer nicht spielen soll, weil Weisweiler ihm das Kapitänsamt übertragen wollte. Vogts lehnt das ab; die Binde geht an Herbert Wimmer.

„Wenn der Trainer dich nicht braucht - wir brauchen dich.“
Jupp Henyckes
Stürmer, Borussia Mönchengladbach

Es ist Jupp Heynckes, der Netzer überzeugt: „Setz dich zwischen die Ersatzspieler, bitte sei einfach da. Wenn der Trainer dich nicht braucht – wir brauchen dich.“ Netzer bleibt und fährt ins Rheinstadion, aber nicht im Mannschaftsbus, sondern im eigenen Auto, einem Ferrari Daytona. Kein Einzelfall, schon bei dem einen oder anderen Auswärtsspiel hat er dieses Privileg in Anspruch genommen.

Am Nachmittag sitzt er am Ende der Gladbacher Ersatzbank, so weit wie möglich von Weisweiler entfernt. Er sieht ein Finale zweier bedingungslos stürmender, technisch hochwertiger Mannschaften mit Torhütern, die über sich hinauswachsen. Zur Pause steht es 1:1, Weisweiler knurrt in Richtung seines Stars: „Sie spielen jetzt.“

„Besser können die mit mir auch nicht spielen.“
Günter Netzer
Spielmacher, Borussia Mönchengladbach

Doch Netzer weigert sich: „In diesem Spiel kann ich nicht helfen. Besser können wir auch mit mir nicht spielen.“ Tausende auf den Rängen rufen seinen Namen – und pfeifen, als auch die zweite Halbzeit ohne ihn beginnt.

1:1 – nach 90 Minuten sinken etliche Spieler entkräftet auf den Rasen. Netzer spricht mit dem jungen Christian Kulik. Der keucht: „Ich bin kaputt. Ich kann nicht mehr gehen, ich kann nicht mehr laufen, ich kann gar nichts mehr.“ Netzer zieht die Trainingsjacke aus, da geht schon ein Raunen durch die Massen. Im Vorbeigehen sagt er zu Weisweiler: „Ich spiele dann jetzt.“

Der Star wechselt sich selbst ein, die Diva fordert den Dickschädel heraus. Erst Arbeitsverweigerung, dann Selbsteinwechslung - ein unerhörter Vorgang, den nie einer der Beteiligten bestritten hat. Als Weisweiler später von Journalisten nach seinem  „genialen Schachzug“ gefragt wird, winkt er nur ab.

Drei Minuten sind in der Verlängerung an diesem heißen Samstag gespielt, drei Minuten, in denen Netzer – abgesehen vom Anstoß – nicht am Ball war. Dann übergibt Berti Vogts ihm den Ball, zehn Meter in der Kölner Hälfte; es sieht aus wie Aufforderung: „Hier – nun mach!“ Und Netzer macht, schüttelt mit einer typischen Drehung einen Gegner ab, zieht das Tempo an, spielt diagonal auf den jungen Rainer Bonhof, startet durch Richtung Strafraum, bekommt den Ball zurück und schießt den Ball direkt mit dem linken Fuß aus 14 Metern in den linken Winkel des Kölner Tores - 2:1. Sein Jubelsprung mit Drehung in die Arme von Jupp Heynckes schließt diesen legendären 13-Sekunden-Schnipsel aus dem kollektiven Fußball-Gedächtnis wie der orkanartige Schrei aus 70000 Kehlen.

„Das war das größte Glück meiner Laufbahn“
Günter Netzer
Torschütze, Borussia Mönchengladbach

Netzer hat sich immer mit einer Mischung aus Verwunderung und Unverständnis über die Überhöhung und Stilisierung seiner fußballerischen Taten und seines persönlichen Lebensstils gewehrt. Und auch am Mythos vom Traumtor im allerletzten Spiel werkelt er nicht mit, sondern schildert schmunzelnd, dass er den Ball nicht richtig getroffen hat, er ihm über den Spann gerutscht ist und sagt lachend: “Das war das größte Glück meiner Laufbahn.“

Der Schuss bringt der Mannschaft und ihrem Trainer den DFB-Pokal ein, jedem Spieler 10000 DM Prämie und dem Verein eine unsterbliche Legende. Netzer trägt den Pokal auf der Ehrenrunde, auf dem Siegerfoto ist er der einzige Gladbacher im Borussia-Trikot – alle anderen tragen die roten Kölner Hemden mit dem Geißbock, die sie in einer Geste der Anerkennung für deren große Leistung mit den FC-Kollegen getauscht haben.

„Wir standen im Lovers Land. Wir tranken. Es flossen Tränen.“
Günter Netzer
Borussia Mönchengladbach

Am Abend wird gefeiert, erst im Düsseldorfer Hotel Intercontinental beim offiziellen Bankett, wo Netzer und Weisweiler kein Wort wechseln, dann in der Kaiser-Friedrich-Halle in Mönchengladbach mit den Fans und in der Nacht in Netzers Diskothek Lovers Lane. In seiner Biographie hat es der King, wie seine Teamkollegen ihn nannten, so beschrieben: „Wir standen im Lovers Lane, wir tranken. Weisweiler war nicht da. Aber mein Vater. Aber mein Vater. Ohne meine Mutter. Es flossen Tränen. Drei Tage später flog ich nach Madrid.“

Erst Jahre später werden sich die beiden aussprechen, Netzer verliert nie ein schlechtes Wort über Weisweiler. Der Mann, der mit seinem mutigen Spielstil und dem Blick für Talente für den Fußball viel mehr gewonnen hat als Trophäen und Pokale, der ganze Generationen von Trainern ausgebildet und inspiriert hat, bleibt sich Trainer treu. In Barcelona verliert er den Machtkampf mit Superstar Johan Cruyff und wird entlassen, beim 1. FC Köln schickt er das Idol Wolfgang Overath in den Ruhestand und führt den Club 1978 zum Double. Er wird Meister in Amerika mit New York Cosmos. Als er gerade der Meisterschaft mit Grashoppers Zürich den Pokalsieg hinzugefügt hat, reißt ihn am 5. Juli 1983 ein Herzinfarkt aus dem Leben, das zwei Jahre zuvor mit der Geburt seines Sohnes John einen neuen Sinn gegeben hat.

Günter Netzer blieb das Lebensglück treu. Was er mit einer - zumeist nur vordergründigen - gewissen Lässigkeit anpackte, wurde ein Erfolg. Als Manager holte er Ernst Happel zum Hamburger SV und legte den Grundstein für die erfolgreichste Ära des Clubs. Als Manager und Strippenzieher im Handel mit TV- und Marketing-Rechten reüssierte er im harten Business genauso wie im lockeren Sport-Entertainment als Partner von ARD-Moderator Gerhard Delling.

„Ich habe alles so gewollt. Ich bin ein Glückspilz.“
Günter Netzer
Fußball-Kultfigur

Im Schlußakkord seiner Biographie „Aus der Tiefe des Raumes“ heißt es: „Es ist ein schönes Leben. Ich habe es so gewollt. Ich habe alles so gewollt. Ich bin ein Glückspilz“.

4 Kommentare
Horst Spiering
"Abseits ist, wenn das lange Arschloch zu spät abspielt." So erklärte Hennes Weisweiler anhand Günter Netzers Verhalten mal eine der Grundregeln des Fußballs.