Interview mit Top-Fußball-Referee Schiedsrichter Felix Brych über Perfektion, platte Kritik und das Phantomtor

Von Benjamin Kraus | 05.05.2023, 12:41 Uhr 1 Leserkommentar

Fußball-Schiedsrichter Felix Brych gehört zu den Besten der Welt, hat die größten Spiele geleitet. Im Interview erklärt er, wie er mit Kritik und Anfeindungen umgeht und wie es ist, mit Lionel Messi & Co. auf dem Platz zu stehen.  

Dieser Mann setzt Entscheidungen konsequent durch, auch wenn 80000 Menschen im Fußballstadion ganz anderer Meinung sind als er und einen Heidenlärm deshalb machen: Felix Brych ist Auftritte und Gegenwind auf der großen Fußball-Bühne gewohnt, ist aber ansonsten sehr zurückhaltend, was sein Privatleben und seine innersten Gedanken betrifft. In diesem Interview lässt er Einblicke zu - zumindest ein wenig, ganz kontrolliert eben, wie das ein Schiedsrichter so macht.

Herr Brych, Sie geben eines Ihrer bis dato eher seltenen Interviews - gelassen oder doch eher angespannt?

Ganz ehrlich: Schon ein bisschen angespannt. Ich öffne sozusagen mein Buch gegenüber der Öffentlichkeit, das habe ich zuvor ganz bewusst nicht getan.

Sobald ein Schiedsrichter zu viel von sich offenbart, macht er sich angreifbar: So lautete Ihre Maxime, nachdem ein Reporter eines Boulevardblattes Sie als junger Bundesliga-Referee ganz bewusst beim Feiern in einer Diskothek abgepasst hatte.

Der Unterschied zwischen mir und einem Polizisten ist: Ich bin immer Schiedsrichter, auch wenn ich zum Beispiel abends beim Essengehen angesprochen werde. Der Polizist zieht seine Uniform aus und ist dann Privatmensch - ich bin das nie, dazu stehe ich zu sehr in der Öffentlichkeit. Die mit dem Fußball verbundene Aufmerksamkeit und Emotionalität schränkt mich ein im Alltag: Ich kann halt nur im engen Freundeskreis, dem ich voll vertraue, mal zwei, drei Bier mehr trinken. Es ging mir bisher darum, möglichst wenig Angriffsfläche anzubieten. Dieses Leben habe ich bewusst gewählt und würde alles wieder so machen, weil mir der Fußball sehr viel zurückgegeben hat, unter anderem die Möglichkeit, die ganze Welt zu sehen. 

Sie sind fünfmal Schiedsrichter des Jahres in Deutschland geworden, haben große WM- und EM-Spiele und ein Champions League-Finale geleitet. Dennoch prägen Google-Treffer zu Ihnen im Internet das zu Unrecht gegebene Phantom-Tor in Hoffenheim im Jahr 2013, als der Ball von der Seite durch ein Loch im Netz ins Tor flog. Finden Sie das nicht ungerecht?

Nein, so ist das in unserem Job. Lob gibt es nicht, auch nicht bei drei starken Vorteilsauslegungen. Lob ist am Ende eine Nicht-Erwähnung, weil man nicht aufgefallen ist als Unparteiischer. Schiedsrichter definieren sich in der öffentlichen Wahrnehmung über Fehler, nicht über gute Entscheidungen. Es stört mich nicht und ist Teil meiner Karriere. Dazu gehört auch die heftige Kritik, die 2013 auf mich eingeprasselt ist und an der ich natürlich zu knabbern hatte: Ab und zu muss man Täler durchschreiten, um beim nächsten Anstieg noch mehr aus sich rauszuholen, noch besser zu werden. Ich kann sagen, dass mir das gelungen ist.

„Hätte ich beliebt sein wollen, wäre ich Comedian geworden“

Wie wird man eigentlich Schiedsrichter? Es gibt doch dankbarere Ämter und Berufe...

Hätte ich nur beliebt sein wollen, wäre ich Schauspieler oder Comedian geworden. Ich habe aber schon als Kind Fußball geliebt und als Jugendlicher auch ambitioniert gespielt - für ganz oben hätte es aber kaum gereicht, zumal ich mir noch das Kreuzband gerissen hatte. Ich war bei Schulturnieren Schiedsrichter und habe gemerkt, dass mir das Spaß macht: Der Antrieb, für Gerechtigkeit zu sorgen, ist tief in mir verwurzelt, damit verbundene Konflikte habe ich nie gescheut. Dann habe ich mit 17 meinen Schiri-Schein gemacht und mit 18 mein erstes Herrenspiel in der untersten Liga geleitet, ich meine beim FC Olympia Moosach...

Moment - Sie haben mit 17 Jahren erst richtig angefangen, zu pfeifen? Sehr spät für jemanden, der später 100 Spiele im Europapokal leitet...

Das stimmt, der Aufstieg ging flott und ich habe schnell gemerkt, dass mir die Spieler folgen. Ich hatte den Ehrgeiz, nach oben zu kommen: Als Individualsportler - das sind wir Schiedsrichter nun mal - ist entscheidend, dass man mehr macht als die anderen, aus Eigeninitiative heraus. Mein Vorbild war ein bisschen der erfolgreiche Rodler Georg Hackl, der nachts immer an seinem Schlitten rumgedoktert hat, um entscheidende Hundertstel rauszuholen: Ich habe meine Fitness verbessert, mein Fußball-Wissen stets auf dem Laufenden gehalten, habe verschiedene Spielertypen studiert, Biografien gelesen und bin bewusst zu meinen Spielleitungen in eine Gedankenwelt eingetaucht, um mich zu fokussieren. 

Das klingt sehr ehrgeizig, sehr strukturiert - und ein wenig so, als würden Sie gern auch ein wenig grübeln?

Grübeln tue ich nicht, aber ich brauche nach Spielen meist etwas Zeit, um wieder runterzufahren. Ich mache viel mit mir selbst aus in diesem speziellen Job: Ich verarbeite Geschehenes und sortiere viel im Unterbewusstsein ein. Um im echten Leben wieder präsent zu sein, benötige ich zuweilen die gesamte Nacht. Oft bin ich erst am Tag danach wieder komplett Felix, der Privatmensch.

Wie ist denn der Privatmensch Felix Brych?

Schon anders als der Schiedsrichter, viel lockerer und ganz sicher nicht so perfektionistisch.

Also liegen auch bei Brychs zu Hause mal Sachen rum?

Das weniger. Ich bin ein sehr ordentlicher Mensch, auch daheim. Aber privat bin ich vermutlich etwas spontaner, und das genieße ich auch. 

Wie wichtig ist ein funktionierendes soziales Umfeld angesichts des Drucks, unter dem Sie regelmäßig stehen?

Ganz entscheidend. Ich habe das Glück eines tollen familiären Umfelds und dass langjährige Freundschaften aus Schul- und Studienzeiten bis heute halten, auch und gerade mit Menschen außerhalb des Fußballs. Genau wie meine langjährigen Schiedsrichter-Assistenten, zu denen ich weniger eine innige Freundschaft als vielmehr eine von großem Vertrauen geprägte Arbeitsbeziehung habe, gibt mir mein enges Umfeld Rückhalt, um später im brodelnden Fußballstadion vor 80.000 Zuschauern stabil zu bleiben. Es ist wichtig für mich, dass niemand direkt böse ist, wenn ich mal genervt bin nach einem Spiel - da bin ich vor allem meiner Frau sehr dankbar. Angesichts des eng getakteten Einsatzrhythmus in den letzten Jahren habe ich aber auch gemerkt, wie gut mir jetzt mein erstes Buch bei der Reflexion geholfen hat, die vielen Erlebnisse rund um große Spiele nachhaltig zu verarbeiten.

Strategie für soziale Medien: Am ehesten Ignoranz

Der ebenso weltbekannte Ex-Schiedsrichter Pierluigi Collina hatte in einem Buch eindringlich geschildert, wie er nach einem Spiel als junger Referee, gejagt von einem wütenden Mob, die Flucht über einen Zaun ergreifen musste. Ist Ihnen so etwas mal passiert?

Zum Glück nicht - vielleicht auch, weil ich schnell durch die Amateurligen nach oben gekommen bin und man im Profibereich doch relativ gut geschützt ist in modernen Stadien. Was in meiner Zeit aufkam, waren zum Teil sehr fiese Kommentare in Sozialen Medien. Die treffen einen oft unvorbereitet, wenn man aus Neugier heraus in irgendwelchen Foren liest, was ich am Anfang doch ab und zu getan habe. Aber letztlich schadet man sich damit selbst, irgendwann setzt man dort auf Ignoranz - oder legt sich zumindest ein dickes Fell zu. 

Jüngst gab es aber auch im Profifußball einen Vorfall: Ein Zuschauer in Zwickau in der 3. Liga hat Schiedsrichter Nicolas Winter eine Ladung Bier mit Wucht ins Gesicht geschüttet.

Solch ein Vorfall lässt mich einfach nur ratlos zurück. Man fragt sich, was in Menschen vorgeht, die so etwas tun. Der Spielabbruch war vollkommen richtig, um den Schiedsrichter und auch das Spiel zu schützen. Hierbei sind alle Vereine, alle Aktiven und alle Menschen aus dem Fußballumfeld gefordert.

Challenge-Lösung beim Videobeweis? Für Brych keine Option.

Was in Ihrer Zeit auch aufkam, war die Etablierung des Video-Referees im Profifußball. Fluch oder Segen?

Ich schätze ihn sehr, weil er mich schützt, zugegeben auch aus egoistischen Motiven: Das Phantomtor von Hoffenheim wäre uns mit dem Videobeweis niemals durchgerutscht - und mit ihm das Tragen des schweren Rucksacks im Bewusstsein der Ereignisse in den Tagen und Wochen danach. Der Videobeweis gibt den Schiedsrichtern bei krassen, potenziell spielentscheidenden Szenen eine zweite Chance.

Aber er zerstört spontane Emotionen auf der Tribüne, die den Fußball doch ausmachen: Weil niemand mehr sicher sein kann, ob ein Tor zählt oder doch zurückgenommen wird.

Ich verstehe Fans, die deshalb genervt sind. Aber es waren die Vereine, die die Einführung des VAR beschlossen haben, um krasse Fehlentscheidungen, bei denen es letztlich um viel Geld geht, möglichst zu vermeiden.

Leidet nicht die für das Spiel unverzichtbare Autorität des Schiedsrichters, wenn er ständig überstimmt wird?

Ständig sollte das nicht passieren - und passiert es ja auch nicht. Es ist ein Tool, das nur in speziellen Situationen zur Anwendung kommt. Der Schiedsrichter hat weiterhin die Aufgabe, auf dem Platz möglichst gut und richtig zu entscheiden und seine Autorität zu manifestieren.

Könnte nicht eine Challenge-Lösung mehr Transparenz schaffen, über die Vereinsvertreter ein-, zweimal pro Partie die Überprüfung einer Entscheidung beantragen können?

Ich glaube nicht, dass das eine Verbesserung bringen würde. Man stelle sich vor, der eine Challenge nehmende Verein bekommt nicht Recht nach einer umstrittenen Entscheidung: Dann wäre der Unmut erst recht groß. Zudem könnte ein solches Instrument gegen Ende der Spiele auch dazu genutzt werden, den Spielfluss zu stören. 

Brauchen wir nicht einfach wieder mehr Toleranz gegenüber Fehlern des Schiedsrichters? Dann wäre der Videobeweis verzichtbar, der zudem die Kluft zwischen Profifußball und Amateuren weiter offenbart.

Fehlertoleranz klingt gut als altruistisches Argument. Wenn ich mir aber die Medienhypes bei großen Spielen ansehe oder aus eigener Erfahrung weiß, wie ein Finale in der Champions League mit einer einzigen Entscheidung auf Messers Schneide stehen kann, glaube ich, ist es doch eher praxisfern. Wir werden keine Fehlertoleranz bekommen in der dominierenden öffentlichen Wahrnehmung im Profifußball - und natürlich ist es so, dass dieser sich inzwischen komplett abhebt von den Amateuren. Mich hat bei den Profis die angestrebte Perfektion in allen Belangen zu Höchstleistungen getrieben: Dass ich meine Leistungen über viele Jahre sehr konstant abliefern konnte, ist vielleicht das, worauf ich am allermeisten stolz sein kann.

Was war für Sie das Kurioseste, was Sie bisher als Schiedsrichter erlebt haben?

Da gibt es viele Dinge - spontan fällt mir die Aktion in Ägypten nach der Leitung des aufgeheizten Kairoer Derbys ein, für das wir aus Deutschland angefragt worden waren. Das Abendspiel wurde extra nach Alexandria verlegt und lief reibungslos. Wir waren schon auf dem Rückweg zum Flughafen, als wir Hunger bekamen und das unseren Kontaktleuten sagten. Daraufhin ließ die Polizei, die uns begleitete, aus Sicherheitsgründen ein Schnellrestaurant auf der Strecke komplett räumen. So saßen wir dort dann ganz allein unter Polizeischutz mitten in der Nacht und haben unsere Burger gegessen.

Wie ist es eigentlich, mit Weltstars wie Lionel Messi auf dem Platz zu stehen?

Spannend - aber letztlich geht es wie bei allen darum, sie in den Griff zu bekommen, was im Fall von Messi wenig problematisch ist: Er ist im Spiel ziemlich im Tunnel, spricht wenig und möchte eher in Ruhe gelassen werden, womit ich mich als Schiedsrichter arrangieren kann. Hier ist aber jeder Spieler anders: Etwa die Defensivspieler Sergio Ramos oder Giorgio Chiellini, die mich stets zu Beginn der Spiele darauf angesprochen haben, dass ich mit ihnen reden soll - klar wollten sie auch austarieren, wie weit sie gehen dürfen im Zweikampf. 

Wie läuft so eine Kommunikation mit Top-Kickern auf dem Platz ab? Wilder als in der Kreisliga?

Überhaupt nicht, eher im Gegenteil, meist völlig frei von verbalen Ausfällen. Oft ist es vor allem nachfragend im Stile von: Bekomme ich schon Gelb beim nächsten Foul? Oder: Warum gibt es hier Gelb, vorhin aber nicht? Grundsätzlich ist es kurz und knackig, auch deshalb, weil man im Stadion nur maximal fünf bis zehn Meter weit alles klar verstehen kann. Wichtig ist für mich immer, die richtige Balance zu finden, alle gleich zu behandeln - dann erwirbt man sich auch den Respekt bei den Spielern.

In Ihrem Buch beschreiben Sie aber auch einzelne Situationen, in denen Sie vor allem aus Fallmustern der Spieler Entscheidungen auf dem Feld ableiteten - obwohl Sie das Foul selbst vielleicht gar nicht sehen konnten, weil zum Beispiel die Sicht verdeckt war. 

Genau, das ist die Kunst, in diesen Situationen trotzdem richtig zu liegen und die Entscheidung für alle überzeugend zu verkaufen. Dann heißt es auch für mich mal, die Maske aufsetzen, das Pokerface - insofern braucht man zumindest ab und zu auch auf der Fußballbühne ein wenig die Qualitäten eines Schauspielers.

Mehr Informationen:

Felix Brych ist 47 Jahre alt und hat seit 2004 über 300 Spiele in der Fußball-Bundesliga geleitet. Der promovierte Jurist arbeitet beim Bayerischen Fußballverband als Abteilungsleiter Talentförderung & Schiedsrichter und lebt mit seiner Frau in München. Seine internationale Karriere hat er nach 100 Europapokal-Einsätzen - unter anderem beim Champions League-Finale 2017 zwischen Juventus Turin und Real Madrid in Cardiff (1:4), das er tadellos über die Bühne brachte - und vielen Einsätzen bei Länderspielen sowie EM- und WM-Turnieren zum Jahresende 2021 beendet. In Deutschland pfeift er auch in der kommenden Spielzeit 2023/24 weiter und kann sich danach vorstellen, als Coach junger Top-Referees tätig zu werden. Seine Erlebnisse aus über zwei Jahrzehnten als Profi-Schiedsrichter präsentiert er in seinem Buch „Aus kurzer Distanz“, das jetzt im Ullstein-Verlag erschienen ist. 

Weiterlesen: Markus Merk als Kolumnist über Brychs EM-Bilanz 2016

1 Kommentar