DFB-Sportdirektor Rudi Völler lässt keinen Zweifel daran, wen er für die Nichtleistung gegen Kolumbien verantwortlich macht. Ein Ablenkungsmanöver? Die Lage ist kompliziert.
Rudi Völler trug seine Analyse nach der nächsten Ernüchterung mit ruhiger Stimme vor, doch seine Worte hatten einen ordentlichen Wumms. „Einfach zu wenig“, kritisierte der DFB-Sportdirektor nach dem 0:2 gegen Kolumbien und stellte im Fernsehen offen die „Qualitätsfrage“.
Bei diesen schwer enttäuschenden Juni-Tests der Fußball-Nationalmannschaft mit dem Schluss-Tiefpunkt in Gelsenkirchen seien „einige dabei gewesen, die werden wir im September vielleicht nicht mehr sehen“. Völler zählte die Spieler öffentlich an - aber was, wenn doch besser über einen neuen Bundestrainer nachgedacht würde?
Wer sind die möglichen Flick-Nachfolger?
Wie über der alten DFB-Zentrale in der Otto-Fleck-Schneise schwebt auch über dem neuen Verbandscampus in Frankfurt-Niederrad der Name von Jürgen Klopp. Der 56 Jahre alte Megaerfolgs-Trainer, der die Fußball-Nation mit einem Lächeln mitreißen könnte, ist aber bis 2026 beim FC Liverpool gebunden. Eine Doppelfunktion scheint ausgeschlossen.
Frei wäre Julian Nagelsmann, der dem FC Bayern im März nicht mehr gut genug war. Der 35-Jährige ist aber noch recht jung und strebt wohl eher nach einer weiteren Vereinskarriere. Das wäre bei Stefan Kuntz nicht so. Der 60-Jährige, der die U21-Junioren zu zwei EM-Titel geführt hatte und bei der Bundestrainer-Wahl gegen Flick chancenlos schien, steht beim türkischen Verband unter Vertrag. Mit oder ohne DFB-Klausel?
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Auf Jobsuche wären die Österreicher Oliver Glasner (48), der Eintracht Frankfurt zum Europa-League-Triumph geführt hatte, Ralph Hasenhüttl (55) und Adi Hütter (53). Eine interne Lösung wäre der aktuelle U21-Coach Antonio Di Salvo (44), der mit den Junioren derzeit in Rumänien und Georgien die EM bestreitet, ebenso wie Flicks Assistent Marcus Sorg (57). Die Einstellung von Ralf Rangnick (64), derzeit sehr erfolgreicher Nationaltrainer Österreichs, wäre sicher mit tiefgreifenden Reformen beim DFB verbunden. Das macht Rangnick immer so.
Neben der Frage nach dem Namen des 1A-Kandidaten, das wäre Klopp, muss der DFB aber auch die nach den finanziellen Rahmenbedingungen beantworten. Der Verband muss jeden Euro umdrehen, alleine der neue DFB-Campus mit 18 Millionen Euro im Jahr unterhalten werden. Unabhängig davon, welche Nationalspieler dort demnächst wieder trainieren.
Welche Spieler hat Völler gemeint?
„Man konnte sehen in diesen zwei Wochen, dass der ein oder andere dann auch bei allem Bemühen ein bisschen an seine Grenzen gekommen ist“, sagte Völler. Namen blieb er am Dienstagabend schuldig: „Das wird man dann sehen bei der nächsten Nominierung.“
Die, die überzeugt haben?
Als Lichtblick darf sich allein der 21-jährige Malick Thiaw (AC Mailand) fühlen. Der Innenverteidiger spielte in Polen und gegen Kolumbien von Beginn an seine ersten beiden Länderspiele und zeigte mehr Souveränität als seine versammelten Abwehrkollegen. Bayern-Juwel Jamal Musiala spielte bei Weitem nicht überragend. Aber auch, wenn dem 20-Jährigen nur ein wenig was gelingt, zieht das die Fans mehr in den Bann als bei den meisten Kollegen.
Die, die außer Form sind?
Leon Goretzka (28) und Kapitän Joshua Kimmich (28) beim FC Bayern sowie Kai Havertz (24) beim FC Chelsea haben in ihren Clubs bewiesen, dass sie viel, viel mehr leisten können. Da war einmal von Weltklasse die Rede. Am Ende einer langen Saison gelang wenig bis nichts. Das Trio wird wiederkommen. Champions-League-Sieger Ilkay Gündogan (32) brachte gegen Kolumbien nicht den erhofften Schwung. Der Kapitän von Manchester City hat in dieser Saison oft genug gespielt, die Kolumbien-Partie war die eine zu viel.
Die, die starke Leistungsschwankungen zeigen?
Gedanken machen müssen sich viel mehr Profis wie der Münchner Leroy Sané (27), der in ewiger Streitfall bleibt und wieder einmal kein positiver Faktor war, obwohl er gern zu einem solchen erklärt wird. Rio-Weltmeister Matthias Ginter (29/SC Freiburg), Benjamin Henrichs (26/RB Leipzig), Thilo Kehrer (26/West Ham United), David Raum (25/RB Leipzig), Nico Schlotterbeck (23), Marius Wolf (28) oder auch Julian Brandt (27/alle Borussia Dortmund) müssen sich ebenso angesprochen fühlen.
Die, die nicht wie im Verein funktionieren?
Flick muss die Frage beantworten, warum das Leverkusener Supertalent Florian Wirtz (20) in der Nationalmannschaft nicht zündet. Und warum er dem 30 Jahre alten Niclas Füllkrug von Werder Bremen, der sich mit einer Torserie in kurzer Zeit zum Fan-Liebling aufschwang, nicht öfter vertraut. Real-Madrid-Profi Antonio Rüdiger (30) und Barcelonas Torwart-Rückhalt Marc-André ter Stegen (31) müssten Leistungsträger sein. Champions-League-Finalist Robin Gosens (28) von Inter Mailand oder Borussia Dortmunds Emre Can (29) sind durchschnittliche bis gute Nationalspieler - wenn sie denn in Form sind.
Die, die Völler nicht gemeint hat
Die Leipziger Pokalsieger Lukas Klostermann (27) und Timo Werner (27) waren eingeladen, verpassten aber verletzungsbedingt zwei bzw. sogar alle drei Spiele.
Im September erwarten den Bundestrainer, wer es auch immer ist, schwierige Personalentscheidungen. Spieler wie Serge Gnabry (27) vom FC Bayern, Karim Adeyemi (21) von Borussia Dortmund oder auch Armel Bella-Kotchap (21/FC Southampton) können geräuschlos wieder nominiert werden. Aber wie würde Flick mit Borussia Dortmunds Niklas Süle (27) umgehen, den er vor dem ersten Juni-Test öffentlich zum besser werden aufgefordert hatte? Und was passiert mit den Ex-Weltmeistern und Bayern-Ikonen Thomas Müller (33) und Torwart Manuel Neuer (37), der zudem Kapitän ist? Irgendwo dazwischen ist die Personalie Mario Götze (31/Eintracht Frankfurt) angesiedelt.
Hansi Flick ist nicht der Bundestrainer, den der DFB jetzt braucht
Flick kam als Erfolgscoach des FC Bayern zum DFB. Mit sechs Titeln im Gepäck und großem Ansehen in Fußball-Deutschland. Doch der Job als Bundestrainer ist ein anderer. In München konnte Flick als Nachfolger von Niko Kovac und Carlo Ancelotti den erfolgreichen Kader der Guardiola-Jahre in dessen Endphase verwalten – und geriet mit ihm in einen von Corona-Wirren unterstützten Erfolgs-Strudel. Beim DFB sollte er den Aufbruch in eine neue Zeit gestalten und die Mannschaft aus der bleiernen Schwere der zu langen Ära Joachim Löws befreien.
Doch Flick ist kein Gestalter, kein Entwickler. Der 58-Jährige ist ein Freund der Spieler, die stets seine menschlichen Qualitäten hervorheben. Er wiederum lobt immer wieder die fußballerische Qualität seiner Profis. Nicht zu unrecht: Mit Musiala, Havertz, Sané, Gündogan oder Wirtz verfügt Deutschland vor allem in der Offensive über große internationale Klasse. Doch zu sehen ist davon auf dem Platz zu wenig. Und es wäre Flicks Aufgabe, das Potenzial freizulegen. In den zwei Jahren seiner Amtszeit gab es 24 Spiele. Deutschland gewann davon zwölf – hauptsächlich gegen Gegner wie Nordmazedonien, Liechtenstein oder den Oman. Der einzige internationale „dicke Fisch“, den Flick mit der Nationalelf besiegte, war Italien. Und dann war da ja noch das peinliche WM-Aus in Katar.
Selbst die Farbe der Kapitänsbinde spielt keine Rolle
Nun, 359 Tage vor dem Start der Heim-EM, wirkt die Lage aussichtslos - und der Bundestrainer ratlos. Er sei überzeugt, dass sein Spielstil zur Mannschaft passe, sagt Flick. In der Erklärung, was er sich darunter konkret vorstellt, bleibt er aber oft nur vage, und entsprechend sieht es auf dem Feld aus. Egal wen er aufstellt, welche Formation er wählt, wie der Kapitän heißt oder ob dessen Binde schwarz-rot-gold oder noch bunter ist: Die Nationalelf entwickelt sich nicht fort. Und nach zwei Jahren Flick fehlt die Fantasie, dass sich das im dritten Jahr seiner Amtszeit ändert.