Ein Jahr vor der Europameisterschaft im eigenen Land strauchelt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft durch den Testspiel-Sommer. Nicht dramatisch, findet unser Kolumnist Udo Muras. Denn die Turnier-Euphorie kann jetzt noch gar nicht da sein.
Der Wandel der Nationalmannschaft vom liebsten Kind zum Prügelknaben des Landes ist atemberaubend. Das hat natürlich was mit den großen Erfolgen der Adlerträger zu tun, die in einer immer anspruchsvolleren Konsumgesellschaft gefälligst zum Dauerzustand werden sollen, was im Sport eine Illusion ist. Gemäßigte Töne sind aber nicht verkaufsfördernd und so lesen wir von Bild bis Kicker vom „EM-Alarm“.
Man könnte meinen, Erich Ribbeck sei noch Trainer und Lothar Matthäus spiele noch immer Libero. Man pickt sich die Fakten raus, die den Alarmismus fördern und andere wie 26:2 Torschüsse gegen Polen werden vernachlässigt – und dann wundert man sich heuchlerisch über die fehlende Euphorie ein Jahr vor der EM im eigenen Land. Wir haben eine unfertige Mannschaft, ja, aber wer sagt denn, dass sie in einem Jahr nicht fertig sein kann? Übrigens darf ich einwerfen, dass mich noch nie eine Euphoriewelle schon ein Jahr vor einem Turnier erfasst hat, allein deshalb weil die Qualifikation noch gar nicht immer geschafft war. Und wenn dann doch, lagen ein Herbst und ein Winter vor mir und der Alltag mit seinen Lasten und Pflichten. Auch Euphorie ist kein Dauerzustand und wen sie länger als vier Wochen erfasst, den schickt man gewöhnlich zum Arzt.
Natürlich ging es unserer Nationalelf schon mal besser, aber selbst die als beste aller Zeiten betitelte fiel vor der WM im eigenen Land in ein Loch. Im Frühjahr 1973 verlor der amtierende Europameister drei von fünf Heimspielen und der Kicker seufzte nach einem 0:1 gegen Jugoslawien vor 40.000 besetzten und 40.000 unbesetzten Rängen im Münchner Olympiastadion: „Es wird uns jetzt schon angst und bange, wenn wir an die Weltmeisterschaft in einem Jahr denken.“ Ein Jahr später holten acht Spieler aus der Startelf im selben, nun ausverkauften Stadion, den WM-Pokal.

Euphorie kam erst in der Zwischenrunde auf, wobei die Gesellschaft der Siebziger es ohnehin nicht so mit dem Patriotismus hatte, der bei so einem Großereignis ja immer ein Treiber der Euphorie ist. Die war auch vor der EM 1988, der Premiere in Deutschland, nicht sonderlich ausgeprägt. Noch immer war das Land in Ost und West geteilt. Die Sowjetunion verhinderte, dass Berlin Spielort wurde, wofür es mit dem Pokalfinale bis in alle Ewigkeit entschädigt wurde. Kaiser Franz regierte die Nationalelf, mit der er 1986 mit Antifußball ins WM-Finale gekommen war. Zwei Jahre Testspiele bis zur EM standen im Zeichen von Experimenten, in jedem des Jahres 1987 gab es eine neue Aufstellung. Sein Credo: „Die Ergebnisse sind mir wurscht, mir geht es mehr um Entwicklungen!“ Was bei Beckenbauer okay war, wird Flick vorgeworfen, quasi als Kompensation für das frühe Aus in Katar müssen nun alle Tests gewonnen werden?!
Ergebnisse sind jetzt noch egal
Das Gerüst muss ein Jahr vor einem Turnier noch nicht stehen, auch die Ergebnisse sind im Grunde egal, so sehr sie uns auch verdrießen mögen im ersten Moment. Das zeigte sich auch vor 1988, als es zwar Prestigesiege gegen große Gegner gab, aber doch keine vollen Stadien. 30.000 in Berlin gegen Frankreich, 31.000 auf Schalke gegen Schweden. Die Stadien waren damals auch in der Bundesliga leer, nicht zuletzt ein Verdienst der Hooligans. Zum letzten Test zehn Tage vor der EM gegen Jugoslawien kamen nur 14.000 Menschen nach Bremen und die pfiffen nach Kräften. Kapitän Lothar Matthäus stellte fest, an Pfiffe sei man „mehr gewöhnt als an ‚Deutschland, Deutschland‘-Rufe. Wir werden überkritisch beäugt.“ Das Turnier wurde dann doch sehr ordentlich, die Vorrundensiege schürten die Euphorie, auch wenn sie die Kaiserlichen nicht bis ins Finale trugen.

Flicks Pech: Mit dem Sommermärchen von 2006 mithalten zu können, wird fast ein Ding der Unmöglichkeit. Es war das erste Turnier im geeinten Deutschland, überall wurden Stadien errichtet oder aufgemotzt, den PR-Kampagnen konnte keiner entkommen und jeden Tag schien die Sonne. Und doch war auch damals entscheidend, was auf dem Platz geschah. Ein Jahr vorher beim Confed-Cup war die Stimmung so gut, dass man am liebsten im Anschluss die WM gespielt hätte. Dann ging es weiter durch die Ebenen der Testspiele und nach einem 1:4 im März 2006 in Italien sollte der von Beginn an umstrittene Trainer Jürgen Klinsmann sich vor dem Bundestag rechtfertigen. Hat er nicht gemacht und die Antwort lieber auf dem Platz geben lassen. Platz drei mit einer neu zusammen gestellten Mannschaft und Typen zum Liebhaben fühlten sich wie der WM-Titel an. Der Weg dorthin war steinig und die Euphoriewelle ritten sie erst mit Turnierbeginn. Ein Jahr vor einem Turnier brauchen wir keine Euphorie, nur Zuversicht.