In einem Jahr beginnt die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland. Das 3:3 gegen die Ukraine zeigt: Die deutsche Nationalmannschaft ist für das Turnier noch nicht bereit. Der DFB in der sportlichen Analyse.
Da half nur noch Sarkasmus. „Das Bremer Publikum ist halt qualitativ sehr hochwertigen Fußball gewohnt“, sagte Niclas Füllkrug über die lauten und wiederkehrenden Pfiffe der Fans in seinem „Wohnzimmer“. Erstmals machten die Zuschauer ihrem Ärger bei der Halbzeit-Auswechslung ihres Stürmers, der beim frühen 1:0 sein Knie im Spiel hatte (6.), Luft. Später dann, nach dem Tor zum 1:3 durch die ukrainische Elf, pfiffen sie immer öfter und stimmten stattdessen „Werder-Bremen“-Sprechchöre an. Zwar bog die deutsche Nationalmannschaft mit Glück noch ein 3:3-Unentschieden zurecht - doch am Montagabend in Bremen wurde (mal wieder) deutlich: Der DFB und sein Aushängeschild sind nicht bereit für die Heim-Europameisterschaft im nächsten Jahr. Ein Sommermärchen wie 2006 scheint für 2024 außer Reichweite.
Der Verband hatte sein 1000. Länderspiel gegen den so schwer vom russischen Angriffskrieg getroffenen Gegner unter das Motto der Solidarität gestellt. Das funktionierte, weil die Fans in schwarz-rot-gold und blau-gelb diesen Gedanken mittrugen. Von einem Schulterschluss zwischen den Menschen und der Mannschaft, den sich der DFB vor der EM so sehnlichst wünscht, ist aber nichts zu sehen - denn dafür passiert auf dem Feld zu wenig.
Projekt Dreierkette schlägt fehl
Bundestrainer Hansi Flick probierte es mit einer Dreierkette. Zu Beginn der Partie klappte das auch ganz gut. Deutschland begann druckvoll und aggressiv - aber mit dem ersten Fehler brach das System in sich zusammen. Nico Schlotterbeck, als linker Innenverteidiger aufgeboten, machte beim ersten Gegentreffer durch Viktor Tsygankov eine ganz schlechte Figur und zwischen Rüdiger und dem zentralen Part Matthias Ginter stimmte die Abstimmung nicht (19.). Auch beim zweiten Gegentor war Schlotterbeck nach dem Ballverlust des schwachen linken Schienenspielers David Raum schlecht postiert. Am Ende traf Mykhaylo Mudryk, weil Rüdiger den Ball ins Netz lenkte (23.).

Nach diesem Doppelschlag verfiel die deutsche Elf in einen Dämmerzustand. Viel zielloser Ballbesitz, wenig Ideen, keine Führung. Mitreißen kann man so weder fehleranfällige Mitspieler noch Fans. Das 1:3 durch Tsygankov als Julian Brandt aus dem Mittelfeld einen halbhohen Ball zu Ginter spielte, der ihn verlor, setzte dem die Krone auf (56.) - die Pfiffe im Weserstadion waren die logische Konsequenz. Ein Aufbäumen in Form einer offensiven Druckphase blieb aus. Erst Kai Havertz, zur Pause für Füllkrug eingewechselt, erweckte die Mannschaft und sorgte mit seiner individuellen Klasse erst für das 2:3 (83.) und dann für einen Elfmeter, denn der ansonsten blasse Joshua Kimmich verwandelte (90.+1).
„Nicht der Anspruch von Deutschland“
Der Kapitän jubelte mit breit ausgestreckten Armen und blickte grimmig in die Ostkurve. „Habt euch nicht so, wir liefern doch“ - wollte er dieses Signal senden? Falls ja: Es wäre fehl am Platz. Das sah auch Benjamin Henrichs so, den Flick nach 76 Minuten als Linksverteidiger brachte. „Wir wollen die Fans packen, dafür müssen wir solche Spiele gewinnen“, sagte der Leipziger. 1:3 gegen die Ukraine zurückzuliegen sei „nicht unser Anspruch, nicht der Anspruch von Deutschland.“ Die Ukraine übrigens hatte die WM 2022 verpasst und wird in einer Gruppe mit England und Italien womöglich auch die Qualifikation zur EM 2024 nicht schaffen.
Flick beendete das Experiment Dreierkette nach 62 Minuten, zumindest vorübergehend. „Wir haben einen Plan, was das Ganze betrifft, das werden wir weiterhin durchziehen. Das sind Automatismen, die Spiele und Training brauchen, daran werden wir arbeiten“, sagte der Bundestrainer nach der neuerlichen Enttäuschung. Ähnliche Sätze hatte man nach dem 2:3 gegen Belgien im März schon gehört. Die Zeit rinnt ihm davon - und der Druck steigt.

Denn ein Jahr vor der EM stellen sich drängende Fragen: Wer soll die Abwehr zusammenhalten? Rüdiger (Real Madrid) könnte es sein, doch er bleibt in der Nationalmannschaft den Beweis schuldig. Dazu fehlt den Nebenmännern - vor allem auf den Außenbahnen - die Klasse. Wer übernimmt die Führung in der Zentrale? Kimmich wäre es gerne, schwimmt aber zu oft nur mit. Dortmunds Emre Can spielte gegen Belgien stark, gegen die Ukraine aber keine Minute. Warum verfällt die Mannschaft reglmäßig in lethargische Phasen? Flick sah einen „zu einfachen Beginn“ und meinte, sein Team habe sich zu sicher gefühlt. Dabei wäre eine engagierte Leistung über 90 Minuten der erste Schritt von vielen zur Versöhnung mit dem Publikum. Wie will die Mannschaft taktisch agieren? Dreier- oder Viererkette? Mit dem Fokus auf Ballbesitz oder auf Konter ausgelegt? Bislang ist es eine Mischung aus allem.
Zwei weitere Testspiele
Und zusammengefasst: Wie soll sich das Publikum mit diesem Team identifizieren, das so leblos agiert, keine überzeugenden Führungsfiguren hat und dem das taktische Korsett fehlt? Die Antwort darauf blieb am Montagabend aus. Und es fällt schwer zu glauben, dass Flick, die Mannschaft und der DFB eine finden. Auf die Suche gehen sie aber: Am Freitag (20.45 Uhr) beim Test in Polen und dann am kommenden Dienstag (20.45 Uhr) auf Schalke gegen Kolumbien. Spätestens zum Eröffnungsspiel der Heim-EM müssen die Fragen geklärt sein. Das steigt in 367 Tagen in München.