Ein Artikel der Redaktion

91-Jährige bricht Schweigen Großangriff auf Berlin im 2. Weltkrieg endet für sechs Briten im Emsland tödlich

Von Hermann-Josef Mammes | 18.09.2023, 06:03 Uhr

Selbst 80 Jahre nach dem Absturz eines britischen Jagdbombers über Klein-Berßen im Emsland ist der Absturzkrater im Wald noch gut erkennbar. Sechs Soldaten starben hier. Die heute 91 Jahre alte Adele Steenken aus Meppen war 1943 Zeitzeugin.

„Ich war damals ein junges Mädchen, elf Jahre alt.“ Sie lebte damals mit ihrer Familie mit neun Geschwistern in Klein Berßen. Sie selbst muss bereits als Kindermädchen bei einem Bauern arbeiten, weil die Familie arm war. Es ist der 22. Novembers 1943, an den sich die 91-Jährige bis heute noch immer in allen Details erinnert. Nun berichtet sie: „Es war abends um 22 Uhr. Ich saß mit der ganzen Familie des Bauern am Tisch.“

„Doch plötzlich war da ein gewaltiger Krach.“
Adele Steenken
Zeitzeugin

Wie schon so oft hören sie an diesem Abend mehrfach das Grölen der englischen Bombengeschwader, die über das Emsland in Richtung der deutschen Großstädte hinwegflogen. „Doch plötzlich war da ein gewaltiger Krach“, so Adele Steenken.

Die ganze Bauernfamilie schmeißt sich auf den Boden und fängt an, das „Vater unser“ zu beten. „Ein großes Flugzeug flog ganz tief über unser Haus. Es war fürchterlich“, sagt sie.

Wenige Augenblicke später „hörten wir einen gewaltigen Knall. Dann war es still.“ Am nächsten Morgen rennt die Elfjährige mit einem Nachbarsjungen heimlich zur Absturzstelle, wenige Meter entfernt vom Ortsausgang in Richtung Sögel. „Zuerst sahen wir das Wrack. Es lag zwischen Bäumen in einem kleinen Wäldchen.“

Adele traut sich näher an das Flugzeug heran. „Das Cockpit war an einer Seite komplett weggerissen.“ Was sie dann erblickt, hat sich bis heute in ihr Gedächtnis eingebrannt: „Ich sah zwei tote Soldaten in den Trümmern.“ Dem einen kann sie direkt ins Gesicht schauen: „Ich habe kein Blut gesehen. Es sah aus, als wenn er schläft.“ Das Gesicht des Mannes werde sie nie vergessen. Der zweite tote britische Soldat liegt regungslos auf dem Bauch.

Sechs Menschen kommen beim Absturz im Emsland ums Leben

Was das Mädchen aus Klein Berßen zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: Insgesamt kommen bei dem Flugzeugabsturz sechs Menschen ums Leben. Noch erstaunlicher: Erst 80 Jahre später erfährt sie von der Redaktion, dass damals ein britischer Soldat den Absturz sogar überlebt hat.

Die Augenzeugin trägt die Erinnerungen viele Jahrzehnte mit sich herum: „Ich habe es über die ganzen Jahre keinem erzählt.“ Erst als sie jetzt über einen anderen Absturz in der Region liest, ruft sie in unserer Redaktion an.

Die Journalisten vermitteln ein Gespräch mit der Vermisstensuchgruppe Ikarus (Interessen-Kameradschaft zur Aufklärung, Regelung und Untersuchung von Suchfällen) aus Lingen, die schon viele Hintergründe von Flugzeugabstürzen während des Zweiten Weltkrieges im Emsland aufdeckten. Jochen Eickhoff besucht Adele Steenken in Meppen und kann ihre Geschichte nicht nur bestätigen, sondern auch geschichtlich exakt einordnen.

„Erfolgreichster“ Angriff im Zweiten Weltkrieg auf Berlin

Die in Klein Berßen von der deutschen Flak abgeschossene Halifax ist Teil des größten und aus Sicht der Briten „erfolgreichsten Angriffs“ auf Berlin im Zweiten Weltkrieg. Nach den Recherchen der Vermisstengruppe Ikarus um Jochen Eickhoff und Harald Rduch ist es die „größte Streitmacht“, die sich bis dato an einem einzigen Tag von England aus in Richtung Deutschland aufmacht.

Nicht weniger als 764 Flugzeuge, darunter 469 Lancaster, 234 Halifax, 50 Stirling und elf Mosquito steigen am späten Nachmittag des 22. Novembers 1943 an der englischen Küste bei Lissett (in der Nähe von Leeds) in den Himmel auf. Sie nehmen direkten Kurs auf Berlin.

„Die Briten flogen fast immer nachts, ohne Beleuchtung und sehr tief, oft nur 30 Meter hoch“, sagt Jochen Eickhoff. Dabei dürften hunderte dieser Flugzeuge an diesem Abend über das Emsland geflogen sein.

Das wird der Handley Page Halifax MK II von Pilot James W. Brown und seiner Besatzung zum Verhängnis. Die Flak-Abteilung 273 der deutschen Wehrmacht nimmt den britischen Bomber unter Beschuss und trifft ihn. In den Akten der Luftgau XI in Hamburg geht die Meldung am 24. November 1943 ein. In der Zentrale werden alle Abstürze über Norddeutschland gemeldet, davon sieben allein am 23. November. Im Protokoll heißt es kurz und knapp: „22.00 Uhr. Klein-Berssen, 15 Kilometer nordöstlich von Meppen, Halifax, 100 Prozent Bruch, sechs Tote und ein Verletzter.“

Nach den Recherchen von Ikarus finden in dem kleinen Wäldchen in Klein-Berßen vor fast 80 Jahren Pilot James W. Brown (28 Jahre), Co-Pilot Stanley T. Hazel (20 Jahre), Navigator Leopold A. Smith (Alter unbekannt), Bombenschütze James M. Philipps (22 Jahre), Funker James T. Sykes (35 Jahre) sowie Schütze William J. G. Middleton (19 Jahre) den Tod.

Sie werden zuerst auf dem Neuen Friedhof in Lingen beerdigt. „1948 haben die Briten die Leichname dann umgebettet und im Reichwald Friedhof Kleve bestattet“, sagt Harald Rduch. Dort erinnern Grabsteine bis heute an die Besatzungsmitglieder um Offizier Leopold Alfred Smith.

Nur Sergeant Kenneth H. Williams hat den Absturz am 22. November 1943 überlebt. Die genauen Umstände und die Schwere seiner Verletzungen sind nicht bekannt. Jochen Eickhoff geht davon aus, dass er von Klein Berßen aus ins Kriegsgefangenenlazarett Lingen transportiert wird. „Das war vermutlich sein Glück.“ Hier seien die meisten Verletzten nachweislich gut behandelt worden. Zwei französische Kriegsgefangene, ausgebildete Ärzte, und Chefarzt Dr. Bergmann hätten sich der Patienten angenommen.

Eine Abordnung vom Genfer Roten Kreuz besichtigt während des Zweiten Weltkrieges das Kriegsgefangenenlazarett im Emsland. „Die Delegation durfte sogar Einzelgespräche mit verletzten Gefangenen führen“, sagt Rduch. Alle bescheinigen ihnen, dass sie gut versorgt werden.

Sergeant Kenneth H. Williams überlebt im Lazarett in Lingen

Sergeant Williams erhält die Kriegsgefangenen-Nummer 263637. Er wird später ins Kriegsgefangenlager 4B Mühlberg an der Elbe gebracht. Hier befreien ihn die Alliierten nach Kriegsende.

Auch wenn die Briten bei ihrem Großeinsatz am 23. und 24. November 1943 über Deutschland insgesamt 26 Flugzeuge verlieren, richten die anderen gewaltige Schäden in Berlin an. Die britische Armee schätzt, dass bei dem Angriff, der sich von Tiergarten und Charlottenburg bis Spandau erstreckt, 3000 Häuser und 23 Industriegebäude zerstört werden. Nach groben Schätzungen werden allein in dieser Nacht im November 1943 in Berlin 175.000 Menschen ausgebombt.

Bei diesem Großangriff werden auch der Berliner Zoo, das Schloss Charlottenburg sowie die Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche zerstört. Noch heute gilt ihre Bauruine als Mahnmal.

Noch keine Kommentare