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Risiken in Krankenhäusern  Osnabrücker Experten: Wie Behandlungsfehler vermeidbar sind und warum sie doch passieren

Von Meike Baars | 10.09.2023, 08:09 Uhr

Behandlungsfehler können für Patienten schwerwiegende Folgen haben. Kliniken setzen viel daran, Risiken auszumerzen. Trotzdem werden sie nie ganz vermeidbar sein. Osnabrücker Experten geben einen Einblick, woran das liegt.

Ein kurzer Moment der Ablenkung, eine falsche Entscheidung, ein unachtsamer Handgriff – und die Folgen für einen Patienten können massiv sein: vermeidbare Schmerzen, ein längerer Klinikaufenthalt, eine Behinderung und im absolut schlimmsten Fall ein vorzeitiger Tod.  

Jeder Mediziner mit etwas Erfahrung habe schon mal eine kritische Situation erleben müssen, in der ihm ein Fehler unterlaufen ist, glaubt Dieter Lüttje, vormals stellvertretender Ärztlicher Direktor am Klinikum Osnabrück und nun als Referent der Geschäftsführung zuständig für den Bereich Patientensicherheit. „Da, wo Menschen arbeiten, passieren Fehler.“

So viele Behandlungsfehler sind 2022 festgestellt worden

Entscheidend ist Lüttjes Meinung nach eine gute Fehlerkultur in Kliniken: Ein offener Umgang mit Fehlern, um gravierende Konsequenzen zu vermeiden, aus den Vorfällen zu lernen und sie zukünftig zu verhindern. „Nicht den Teppich hochnehmen und darunter kehren, sondern miteinander sprechen“, sagt Siegfried Borker, der das zentrale Qualitäts- und Risikomanagement des Niels-Stensen-Verbunds leitet, zu dem unter anderem das Marienhospital gehört.

Im August hatte der Medizinische Dienst seine jährliche Statistik zu Behandlungsfehlern in Deutschland vorgelegt. Demnach stellten Gutachter der gesetzlichen Krankenkassen im vergangenen Jahr in 2696 Fällen ärztliche Behandlungsfehler fest, die zu gesundheitlichen Schäden bei Patienten geführt haben. In 84 Fällen führten diese sogar zum Tod oder trugen wesentlich dazu bei.

Im Vergleich zur Gesamtzahl aller Krankenhausbehandlungen im Jahr klingt die Zahl klein, aber hinter jedem Fall steckt ein Einzelschicksal und die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung behandeln die Krankenhäuser in Deutschland pro Jahr knapp 17 Millionen Fälle.

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Medikamente haben Nebenwirkungen, medizinische Eingriffe können Komplikationen hervorrufen, bestimmte Behandlungen sind mit Risiken verbunden. Treten sie ein, muss dies kein Behandlungsfehler sein. Kommt es etwa bei einer Operation zu einer Blutung im Bauchraum, kann dies eine Komplikation sein, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit passieren kann, ohne dass Ärzten ein Fehler unterlaufen ist. Um einen Behandlungsfehler würde es sich nur handeln, wenn nicht direkt alles getan würde, um diese Blutung zu stoppen. Ein Behandlungsfehler liegt dann vor, wenn eine Behandlung nicht anerkannten medizinischen Standards entspricht oder notwendige Sorgfalt vermissen lässt

Für die beiden großen Osnabrücker Krankenhäuser, das Klinikum und das Marienhospital, lassen sich keine aussagekräftigen Zahlen für Behandlungsfehler nennen, die im vergangenen Jahr aufgetreten sind. Das hat mehrere Gründe. Der Medizinische Dienst (MD) bricht seine Statistik nicht auf die Stadt- und Landkreisebene herunter, wie Jan-Hendrik Eickmeier, Sprecher des MD Niedersachsen mitteilt.

Oft vergehen viele Jahre, bis Fälle von Behandlungsfehlern entschieden sind

Zudem gibt es mit den Schiedsstellen der Ärztekammern eine parallele Struktur. Auch dort werden mögliche Behandlungsfehler und ihre Folgen geprüft, wie Dieter Lüttje vom Klinikum erklärt. Gutachterliche Prüfungen, Schiedsverfahren, gerichtliche Auseinandersetzungen: Oftmals dauere es Jahre, bis entschieden ist, ob ein ärztlicher oder pflegerischer Fehler einen Gesundheitsschaden verursacht hat, so Siegfried Borker.

Dass die Gesamtzahl der Behandlungsfehler mittlerweile auf niedrigem Niveau verharrt, sieht Peter Gausmann, Osnabrücker Berater für Patientensicherheit, einerseits als Resultat eines „erfolgreichen klinischen Risikomanagements“, das in vielen Häusern mittlerweile betrieben wird. Dass die Zahl im Vergleich zu Vorjahren stagniere, zeige andererseits, dass noch immer viel zu tun sei.

Ihn störe jedoch die Empörungshaltung, mit der über „Ärztepfusch“ gesprochen werde. „Hinter diesen Handlungen steckt ja kein Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit. Diese Fehler passieren unter schwierigen Bedingungen in Ausführung einer hochkomplexen medizinischen Tätigkeit.“

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Wenn Patienten vermuten, dass bei ihrer Behandlung ein Fehler gemacht worden ist, der einen gesundheitlichen Schaden verursacht hat, sollten sie verschiedene Schritte einleiten. Tipps von Max Middendorf, Fachanwalt für Medizinrecht:

  1. Ein Gespräch mit dem behandelnden Arzt suchen, um „eine sachliche Grundlage“ zu schaffen.
  2. Mithilfe der eigenen Krankenkasse an die jeweils zuständige regionale Ärztekammer wenden, um den Sachverhalt auf einen möglichen Behandlungsfehler hin überprüfen zu lassen. Ein Gutachten klärt dann, ob tatsächlich ein Behandlungsfehler vorliegt und kann anschließend im Rahmen einer Schlichtung zwischen Arzt, beziehungsweise dessen Berufshaftpflichtversicherung, und Patient vermitteln.
  3. Führt das nicht zum gewünschten Ergebnis und ist der Behandlungsfehler im Kern strittig, kann es vor Gericht gehen. Dann sollten sich Patienten Hilfe bei einem Fachanwalt für Medizinrecht holen. Die medizinischen Streitfragen werden im Prozess mithilfe eines Gutachtens geklärt.
  4. Für eine Haftung des Arztes reicht laut Middendorf „auch der kleinste Schaden aus“. Das Schmerzensgeld soll Betroffenen Ersatz für immaterielle Schäden bieten. Hinzu käme eine Entschädigung für materielle Schäden. Das können etwa Verdienstausfälle oder Umbaukosten für die Wohnung sein. Die Höhe dieser Ansprüche richtet sich nach dem Einzelfall. (dpa)

Die Fehlerrate zu senken, ist Gausmanns Job als Klinikberater. Dabei nimmt er sogenannte „never events“ in den Blick: voll vermeidbare kritische Ereignisse. Dabei handelt es sich um bereits bekannte Risiken und Fehlerquellen in Krankenhäusern, die durch Kontrollroutinen so gut wie ausgeschlossen werden können.

Amputation eines falschen Körperteils: ein „never event“

Der Klassiker: die Amputation eines gesunden Körperteils. Wenn bei jedem Schritt von der Aufnahme des Patienten, über die Station, bis in den OP-Saal immer wieder kontrolliert und abgehakt wird, dass es sich um den richtigen Patienten und das richtige Körperteil handelt, dann kann dieser Fehler nicht mehr passieren. Ein never event.

In seinem „Gruselkabinett“, wie Peter Gausmann es nennt, hat er viele weitere Beispiele für voll vermeidbare Fehler, auf deren Wahrscheinlichkeit des Auftretens er Krankenhäuser auf Herz und Nieren prüft. Metallische Objekte im MRT, inkompatible Transfusionen, Belassen von Fremdkörpern im Körper nach einer Operation: All das muss heutzutage nicht mehr passieren, weil Klinikverantwortliche aus Fehlern der Vergangenheit Lehren ziehen können.

Kliniken analysieren mögliche Behandlungsfehler nicht nur, wenn es einen Kläger gibt. In sogenannten „Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen“ besprechen Krankenhausteams besondere Behandlungsverläufe oder Todesfälle. Die Frage dabei: Hätten wir etwas anders und besser machen können? Sowohl im Klinikum als auch im Marienhospital finden diese Konferenzen regelmäßig statt.

Kritische Ereignisse erkennen, bevor sie sich auswirken

Beide Häuser haben zudem sogenannte Erfassungssysteme kritischer Ereignisse (critical incident reporting system, CIRS). Dabei handelt es sich um Berichtssysteme, über die Mitarbeiter Fehler oder Risiken melden können, die ihnen aufgefallen sind. Dieter Lüttje vom Klinikum erklärt die Leitfrage: Wo erkennen wir kritische Ereignisse, bevor sie massive Auswirkungen auf ein Patientenleben haben?

Ein Beispiel: Medikamente, die ähnlich klingen oder eine ähnliche Verpackung haben, liegen im Arzneimittelschrank direkt nebeneinander. Die Gefahr, dass sie im Eifer des Gefechts verwechselt werden, sei hoch, schildert Siegfried Borker. Sie lasse sich aber bannen, wenn Mitarbeiter für sie sensibilisiert sind und die Medikamente bewusst räumlich getrennt voneinander aufbewahrt werden.

Kliniken sind keine automatisierten Produktionsbetriebe

Laut Risikoanalyst Gausmann sind sich Kliniken heutzutage über ihre „neuralgischen Punkte“ bewusst. Da Krankenhäuser aber keine vollautomatisierten Produktionsbetriebe sind, werde es nie möglich sein, dort einen Null-Fehler-Ansatz umzusetzen. „Die Herausforderung ist, Fehler sofort zu erkennen und so zu intervenieren, dass sie möglichst geringfügige Folgen haben.“

Dieter Lüttje erinnert sich an einen Fehler, der ihm selbst vor vielen Jahren noch in einer anderen Stadt unterlaufen ist. Während eines Eingriffs verlor er beim Absaugen einen Fremdkörper in der Körperhöhle eines Patienten und fand ihn nicht mehr wieder.

Wenn Vorgesetzte vorbildlich reagieren

Passiert sei das aus „unangemessener Überheblichkeit“, reflektiert Lüttje im Rückblick. „Ich dachte, ich sei schon so routiniert wie mein Oberarzt. Dann musste ich ihm den Fehler beichten.“ Der Vorgesetzte habe vorbildlich reagiert und den Eingriff zuende geführt. „Dem Patienten ist zum Glück überhaupt nichts passiert, aber er hatte eine längere OP und Narkosezeit.“

Der Vorfall sei ihm als junger Arzt eine Lehre in Demut gewesen. Dass einem nicht der Kopf abgerissen wird, wenn man einen Fehler zugibt: eine wichtige Erfahrung. Als er die damalige Klinik verließ, habe er das Fremdkörperteil mit seinem Namensschild versehen geschenkt bekommen. Er bewahrt es bis heute auf.

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