Die Corona-Pandemie, der Angriffskrieg auf die Ukraine, auch eine Finanzkrise hat Europa schon erlebt. Doch wie gelingt Solidarität in schwierigen Zeiten? Das diskutierten Experten beim Osnabrücker Friedensgespräch.
Euro-Krise, Flüchtlingskrise, Brexit, Corona-Krise: Inzwischen gibt es so viele Krisen, mit denen die Menschheit einen Umgang finden muss, dass in der Wissenschaft bereits von der Poly-Krise gesprochen wird. „Krisen verstärken sich gegenseitig, das ist sehr beängstigend“, ordnet György Széll, Professor für Soziologie an der Universität Osnabrück ein. Besonders in diesen Zeiten brauche es Solidarität, um ebenjene Krisen lösen zu können.

Wie ein solidarischer Umgang miteinander entstehen kann, war kürzlich die Fragestellung des Friedensgesprächs in Osnabrück. Gleich zu Beginn stellt Széll klar: „Solidarität ist Basis für das Zusammenleben in der Welt, ansonsten zerfällt eine Gesellschaft.“
Krisen können Solidariät hervorbringen
Solidarität kann im Kleinen wie im Großen funktionieren. Immer wieder werden Staaten vor die Frage gestellt, ob sie eine Krise auf nationaler Ebene lösen oder im europäischen Verbund solidarisch an einem gemeinsamen Ausweg arbeiten wollen. Als erste gesamteuropäische Krise identifiziert Reiner Hoffmann, ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, die Finanzkrise im Jahr 2007. „Wir sind damals vor große Fragen gestellt worden“, ordnet der Ökonom ein.
Auch mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie im Jahr 2020 kam das Krisenmanagement der Europäischen Union zum Tragen. „Aus wirtschaftlicher Sicht hat das Kurzarbeitergeld in Deutschland eine Brücke für Existenzen geschlagen – und andere Mitgliedstaaten haben dieses Kurzarbeitergeld interessiert beobachtet“, berichtet Hoffmann. Mit dieser deutschen Herangehensweise kam es zu einem europäischen Paradigmenwechsel, aus dem inzwischen das EU-Maßnahmenpaket „SURE“ ( kurz für „Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency“, dt. Unterstützung bei der Minderung des Arbeitslosigkeitsrisikos in Notfällen) nach deutschem Vorbild erwachsen ist. Ein Beispiel für ein solidarisches Instrument, gewonnen aus einer Krise.
Krieg in der Ukraine ein Motor für Solidarität
Die neueste der Poly-Krisen brach im vergangenen Jahr über Europa hinein, als Russland den Angriffskrieg in der Ukraine begann. Doch auch hier erkennt Hoffmann die Möglichkeit, solidarisch zusammenzuwachsen: „Menschen, die vor Krieg und Tod fliehen, bekommen eine Zuflucht. Auch das ist ein Akt der Solidarität“, so der Gewerkschaftsfunktionär.

Aus dem einst solidarischen Gedanken werde jedoch zunehmend ein wirtschaftliches Kräftemessen, wirft Andrea Nahles, Vorsitzende der Bundesagentur für Arbeit und ehemalige SPD-Vorsitzende, ein. So gebe es den Wunsch, Geflüchtete aus der Ukraine möglichst schnell in den deutschen Arbeitsmarkt einzubinden. Es brauche einen anderen Umgang mit Menschen, die vor Krieg geflohen sind, betont Nahles: „Diese Leute kommen nicht nach Deutschland, um hier das Glück als Facharbeiter zu finden, sondern weil sie Kriegsflüchtlinge sind.“ Man dürfe zugunsten der Solidarität in einigen Punkten nicht mit anderen EU-Staaten in Konkurrenz treten.
Auch das Anwerben von Menschen aus dem Ausland, um dem Fachkräftemangel in Deutschland entgegenzuwirken, zeige auf, wie unsolidarisch sich westliche Staaten verhalten: „Wenn wir Fachkräfte aus anderen Staaten holen, dann fehlen sie vor Ort. Damit verhalten wir uns egoistisch“, findet Hans-Gert Pöttering, ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments. Dahinter verberge sich das Phänomen des „Brain Drain“, der Abwanderung von Fachkräften, argumentiert Hoffmann. „Das ist nicht sonderlich solidarisch, sich daran zu bedienen.“
Grafik: Wo die meisten Fachkräfte fehlen

Langfristig sei die Solidarität und Sicherung der Demokratie aber erst mit der Zufriedenheit der Bürger gesichert, merkt Andrea Nahles an: „Unsere Herausforderung in der Bundesagentur für Arbeit ist auch immer, wie groß die Kundenzufriedenheit ist.“ Das gelte auch für Deutschland und die Welt, wo Staaten Stabilität bieten müssen. „Es braucht Kundenzufriedenheit mit der Demokratie“, glaubt Nahles.