Blindenvereinen geht es darum, den Mitgliedern Wege aus der privaten oder staatlichen Fürsorge zur eigenbestimmten Selbsthilfe aufzuzeigen. Dieser Aufgabe hat sich auch der Blindenverein Osnabrück verschrieben, der vor 100 Jahren gegründet wurde. Damals stellten Blinde noch Bürsten her und mussten Hand in Hand über die Straße gehen.
Aus dem 1923 mit 21 Mitgliedern gegründeten Blindenverein Osnabrück ist mittlerweile der Regionalverein Osnabrück-Emsland-Bentheim im Blinden- und Sehbehindertenverband Niedersachsen (BVN) mit rund 400 Mitgliedern geworden. Diesen Freitag, 25. August, feiert er sein 100-jähriges Bestehen bei Lingemann in Rulle.
Die Einordnung in den Landesverband hat zu einer stärkeren Professionalisierung der Beratungsangebote geführt. Davon profitieren Blinde und Sehbehinderte sowie deren Angehörige etwa in puncto Interessenwahrnehmung, Stellung von Anträgen, Umgang mit Hilfsmitteln und Austausch von Erfahrungen.
Die Geschäftsstelle des Blindenvereins Osnabrück mit Wohnungen und Werkstätten gehörte 1955 zu den ersten Häusern, die in der Pagenstecherstraße entstanden. Schieben Sie den Regler hin und her, um den Unterschied zur heutigen Geschäftsstelle zu sehen.
Bürsten und Pinsel: Das war einmal
Detlef Große, selbst blind, ist seit 16 Jahren Vorsitzender des Osnabrücker Vereins. Seine normal sehfähige Frau Adelheid unterstützt ihn bei seinen zahlreichen Aufgaben, die er ehrenamtlich wahrnimmt, und versieht daneben regelmäßig Dienst in der Geschäftsstelle in der Pagenstecherstraße 4. Detlef Große kann sich noch an die Zeiten erinnern, als im Keller des Hauses Bürsten und Besen hergestellt und Flechtwerk repariert wurde. Warum waren gerade diese Tätigkeiten so typisch für Blindenwerkstätten? „Der bei Blinden oft besonders gut entwickelte Tastsinn ist es wohl, der ihnen diese Arbeit ermöglichte“, meint Große, „dadurch konnten sie das genauso gut oder sogar besser als Sehende“. Die Werkstatt wurde aber schon 1999 aufgegeben, als die Selbstkostenpreise vergleichsweise zu hoch wurden im Wettbewerb mit Industrieprodukten.

Heute: Blinde üben normale Berufe aus
„Und überhaupt geht es heutzutage ja nicht mehr um Beschäftigungsprogramme für Blinde. Die technischen Unterstützungen sind so gut geworden, dass den Blinden viele normale Berufe offenstehen“, erklärt Große, wovon zahlreiche erfolgreiche Karrieren etwa als Juristen, Sozialpädagogen, Telefonberater oder Masseure Zeugnis ablegten. Das recht aufwändige Erlernen der Braille-Blindenschrift sei keine notwendige Voraussetzung mehr, weil digitale Kommunikationsmöglichkeiten wie etwa die „sprechende Tastatur“ mittlerweile weit verbreitet seien.

Alltagshelfer im Musterkoffer
Was es alles so an Alltagshelfern gibt, das steckt in dem Musterkoffer, mit dem Adelheid Große und die Kolleginnen aus der Geschäftsstelle zu Beratungsterminen fahren. Da ist zum Beispiel der Eingießmelder, den man auf den Tassenrand aufsteckt und der piept, wenn die richtige Einfüllhöhe erreicht ist. Oder die sprechende Armbanduhr. Oder das elektronische Farberkennungsgerät, das bei der Auswahl farblich zueinander passender Kleidungsstücke berät.

Kampf ums Landesblindengeld
Neben der individuellen Beratung Betroffener leistet der BVN gesellschaftliche und politische Lobbyarbeit. Als die niedersächsische Landesregierung 2004 das Blindengeld streichen wollte, führte entschlossener Protest zu einer Rücknahme des Gesetzes. Aktuelle Knackpunkte im Kampf um Barrierefreiheit im Verkehr sind etwa E-Scooter, die achtlos auf Gehwegen liegen gelassen werden, oder Elektroautos, die sich lautlos nähern. Zwar sind künstliche Warngeräusche bei niedrigen Geschwindigkeiten, wenn Luft- und Rollwiderstand noch nicht hörbar sind, vorgeschrieben, aber die lassen sich abschalten. „Und das darf nicht sein!“, ist Detlef Große sehr entschieden.

Teilhabe an allen Lebensbereichen
Um den Gefahren im Straßenverkehr zu begegnen, war es früher üblich, dass sich blinde Menschen Hand an Hand anfassen mussten, wenn sie zu einer Beschäftigungstherapie geführt wurden, gerade so wie Kindergartenkinder. Derartig unwürdige Szenen seien heute undenkbar, sagt Große. Der heutige Blinde ist ein selbstbewusster Mitbürger, der sein Recht auf Bildung und Arbeit, Kultur und Sport, also die Teilhabe an allen Lebensbereichen als Selbstverständlichkeit einfordert. Er muss nicht untätig als Frührentner dahinvegetieren. Große resümiert: „Insofern ist in den vergangenen 100 Jahren doch schon eine Menge passiert“.
