Mysteriöse Lebererkrankungen Gehäufte Hepatitis-Fälle bei Kindern: Eine Folge der Corona-Lockdowns?

Von Marian Schäfer | 28.04.2022, 14:25 Uhr | Update am 04.05.2022

Könnten die Corona-Schutzmaßnahmen und Lockdowns das Immunsystem von Kindern geschwächt haben? Dieser Verdacht steht nach einer Häufung von Hepatitis-Fällen im Raum. Ein Experte äußert sich zu diesem Verdacht.

Viele Mütter und Väter können nur müde darüber lächeln, wenn von der Kita-Zeit als „Trainingslager fürs Immunsystem“ gesprochen wird. Was sich positiv anhört, bedeutet für sie nämlich ständig triefende Rotznasen und das Auftauchen von Keimen, deren Namen sie oftmals noch nie gehört haben.

So zählte für viele Familien zu den wenigen positiven Aspekten der Corona-Lockdowns, dass zumindest die Zahl der Infekte deutlich zurückging. Aber mit welchen Folgen?

Störten Corona-Maßnahmen die Immun-Entwicklung?

Seit sich Fälle von Leberentzündungen bei Kindern vor allem in Großbritannien häufen, steht die Hypothese im Raum, die ergriffenen Corona-Maßnahmen mit all den Hygienevorschriften und Lockdowns könnten zu einer unzureichenden Ausbildung des kindlichen Immunsystems geführt haben. Das Robert-Koch-Institut selbst sprach etwas nebulös von „Effekten“ der COVID-19-Pandemie, wegen der gerade jüngere Kinder besonders betroffen sein könnten.

Bisher registrierte die Weltgesundheitsorganisation weltweit mindestens 228 Fälle von unklaren schweren Leberentzündungen bei unter 16 Jahre alten Kindern, wobei die größte Gruppe Kleinkinder bilden. „Bei ihnen wurden die typischen Hepatitis-Erreger vom Typ A bis E ausgeschlossen und gleichzeitig sehr hohe Leberwerte gemessen“, erklärt Tim Niehues, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Klinikum Krefeld und Sprecher des Arbeitskreises „Pädiatrische Immunologie“ in der Deutschen Gesellschaft für Immunologie.

Forschung hat Adenoviren im Visier

Nach allem, was die Forschung bisher weiß, könnten hinter den Leberentzündungen wohl Adenoviren stecken. „Zumindest gibt es Hinweise auf Adenovirus-Infektionenr“, sagt Niehues. Allerdings sei diese Virusart und damit auch Infektionen mit ihr sehr häufig. „Wichtig wäre zu wissen, ob alle Kinder mit derselben Art des Adenovirus befallen waren.“ T

heoretisch könnte am Ende auch ein ganz neuer Adenovirus-Stamm gefunden werden, der womöglich mehr auf die Leber geht. „Aber das ist schon sehr hypothetisch“, meint der Immunologe. Leberentzündungen jedenfalls sind eine bekannte seltene Komplikation einer Adenoviren-Infektion – allerdings nicht bei gesunden, sondern bei immungeschwächten Menschen.

Könnten dazu nun auch die vielen Kinder zählen, die einige Monate lang nicht in die Kita durften, für deren Immunsystem also das „Trainingslager“ ausfiel?

So entwickelt sich das kindliche Immunsystem

Was logisch klingt, ist so einfach nicht: „Jedes Kind entwickelt noch im Mutterleib ein Repertoire an Immunzellen, das genetisch festgelegt und sich in Hunderttausenden oder gar Millionen Jahren Evolution herausgebildet hat“, erklärt Tim Niehues. „Selbst wenn die Kleinen komplett steril aufwachsen würden, wären sie nicht verloren, wenn sie plötzlich in Kontakt mit der Außenwelt und ihren Keimen kämen.“

Zu Missverständnissen führe mitunter, dass im Zusammenhang mit dem Immunsystem oft von „angeboren“ und „erworben“ die Rede sei. „Dies erweckt den Eindruck, als müsste ein Teil der körpereigenen Abwehr erst einmal entstehen und als gäbe es eine Trennung zwischen diesen beiden Teilen“, so Niehues. Er verwendet deshalb lieber die Begriffe „spezifisch“ und „unspezifisch“.

„Spezifische“ und „unspezifische“ Immunzellen

Zum unspezifischen Teil des Immunsystem gehören zum Beispiel die sogenannten Fresszellen, die bereits ab der vierten Schwangerschaftswoche im Knochenmark von Feten gebildet werden und sich quasi auf alles stürzten, was körperfremd ist. Genauso bildet es aber auch Immunzellen aus, die wandelbar sind und von der Thymusdrüse sozusagen speziell ausgebildet werden.

Kommt ein Kind dann zum ersten Mal mit Viren oder Bakterien in Kontakt, rücken zunächst einmal die Fresszellen an. Die heißen so, weil sie die Keime regelrecht verdauen. Übrig bleibt nur ein kleiner Rest, den sie wie eine Flagge hochhalten und damit den Zellen des spezifischen Immunsystems den Weg weisen.

So kombiniert der Körper eine schnelle, tendenziell schwächere Immunantwort mit einer eher langsameren, dafür kraftvolleren Abwehrreaktion. Ein Teil der spezifischen Immunzellen bleibt nach erfolgreicher Abwehr als „Gedächtniszellen“ zurück. Dadurch kann die körpereigene Abwehr beim nächsten Kontakt gleich gezielt und schnell zuschlagen.

Krippenzeit ist Trainingslager fürs Immunsystem

„Deshalb ist es nicht ganz falsch, von der Krippenzeit als ‘Trainingslager fürs Immunsystem’ zu sprechen“, sagt Tim Niehues. „ Die körpereigene Abwehr muss durchaus erst lernen, mit Virusinfektionen richtig umzugehen.“ Insofern könne man gerade die Zeit der Lockdowns auch als verpasste Möglichkeit betrachten, sich mit Viren auseinanderzusetzen.

Zwar verfügen Neugeborene über einen Nestschutz, also eine Art Grundimmunität in Form von Antikörpern, die sie von ihrer Mutter bekommen. Allerdings nimmt dieser mit der Zeit ab.

Grund zur Beunruhigung besteht laut Tim Niehues nicht. „Zwar ist es so, dass die Häufung der Fälle kaum zufällig sein kann“, meint der Experte. „Allerdings sprechen wir immer noch von einer sehr niedrigen Zahl.“

Wichtig sei, dass die zuständigen Behörden nun wachsam seien, Verdachtsfällen nachgingen und genau geschaut werde, wie viele Fälle in den beobachteten Zeiträumen erwartbar wären . „Leider gibt es jedes Jahr und in jedem Land Kinder, die sehr schwer an Leberentzündungen erkranken, ohne dass Mediziner dafür den Grund kennen.“

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