Medizinisch nicht notwendige Beschneidungen sind Körperverletzung: So urteilte das Kölner Landgericht vor zehn Jahren. Danach legalisierte die Politik die Eingriffe. Am Samstag erinnert ein Aktionstag in Köln daran. Im Interview erklärt einer der Organisatoren, warum darunter auch Mädchen leiden.
Im Jahr 2020 rechneten Ärzte und Kliniken hierzulande mehr als 32.000 Beschneidungen von Jungen bei den gesetzlichen Krankenkassen ab. Statistisch betrachtet waren davon rund 27.000 Eingriffe medizinisch nicht notwendig. Rechtlich gesehen waren sie allerdings legal: Seit die Politik Ende 2012 den sogenannten „Beschneidungs-Paragraphen“ schuf, haben Eltern das Recht, über die Vorhaut ihrer Jungen zu entscheiden.
7. Mai ist „Weltweiter Tag der Genitalen Selbstbestimmung“
Am Samstag (7. Mai) machen darauf medizinische Verbände sowie fast 80 Kinder-, Menschen- und Frauenrechtsorganisationen beim „Weltweiten Tag der Genitalen Selbstbestimmung“ aufmerksam. Der Tag findet seit 2013 in Köln statt und thematisiert das Problem nicht-therapeutischer Genitaloperationen von Kindern aller Geschlechter. In diesem Jahr gibt es neben einer zentralen Kundgebung (12 Uhr, Alter Markt) viele Rede- und Diskussionsbeiträge, die auch in einem Live-Stream online zu sehen sind. Einen Sendeplan finden Sie hier.
Im Interview erklärt Victor Schiering, wie sich die Situation seit dem „Kölner“ Urteil entwickelt hat und warum unter der aktuellen Regelung auch Mädchen leiden. Schiering ist Vorsitzender des Betroffenen-Vereins „MOGiS e.V. – Eine Stimme für Betroffene“ und selber als Fünfjähriger beschnitten worden.
Herr Schiering, sie bezeichnen den 7. Mai, den „weltweiten Tag der Genitalen Selbstbestimmung“, als Feiertag. Warum?
Der 7. Mai ist das Datum, an dem das Kölner Landgericht im Jahr 2012 erstmals festgestellt hat, dass das Abschneiden der Vorhaut bei einem Jungen ohne medizinische Notwendigkeit eine strafbare Körperverletzung ist. Damit erklärte es, dass auch Jungs an dieser Stelle ein Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf genitale Selbstbestimmung und eine gewaltfreie Erziehung haben. Letzteres war damals ja schon zwölf Jahre lang Gesetz, aber noch nie von einem Gericht so klar angewendet worden. Deshalb empfinden wir den Tag als Feiertag für unteilbare Kinder- und Menschenrechte.

Wenige Monate danach erließ der Bundestag den sogenannten „Beschneidungs-Paragraphen“. Seitdem dürfen Eltern ganz offiziell auch Beschneidungen durchführen lassen, die medizinisch nicht notwendig sind. Zehntausende Jungen sind pro Jahr in Deutschland betroffen. So viel zu feiern gibt es dann doch wieder nicht, oder?
Der positive Impuls bleibt unabhängig davon, dass die Politik und auch große Teile der Medien damals und bis heute an ihren eigenen Grundsätzen gescheitert sind. Das Recht auf gewaltfreie Erziehung war ja keine Erfindung der Kölner Richter, sondern wurde im Jahr 2000 gegen erhebliche politische Widerstände durchgesetzt. An diesem Grundsatz wollte man sich, was die genitale Unversehrtheit von Jungen angeht, nicht orientieren. Man hat ihn den Interessen von Erwachsenen untergeordnet.
Seit 2013 findet der Welt- als eine Art Protesttag statt. Was hat sich seitdem getan?
Wenn man mal schaut, von wie vielen Organisationen der erste Welttag unterstützt worden ist, dann hat sich ihre Zahl seit heute ungefähr verzehnfacht. Auch in der Medizin hat sich viel getan. Man muss ja immer wieder betonen, dass die meisten Vorhautamputationen in Deutschland nicht vor einem kulturellen Hintergrund gemacht werden, sondern aus häufig zweifelhaften medizinischen Gründen. Daran haben die betreffenden medizinischen Fachgesellschaften in den Jahren sehr seriös gearbeitet und vor ihrer eigenen Tür gekehrt. Erst kürzlich veröffentlichten sie eine neue Leitlinie zu Vorhautengen (Phimose), die oft als eine Art Schein-Diagnose für Operationen dienen. Die Leitlinie erläutert die Funktionen der Vorhaut als erogene Zone und macht deutlich, wie selten ein Abschneiden tatsächlich medizinisch notwendig ist.
An der Leitlinie konnten Sie als Betroffenen-Vertreter selber mitarbeiten. Wie war das?
Unsere Stimme war auf jeden Fall notwendig. Oft geht es in solchen Prozessen ja eher um akute Komplikationen wie zum Beispiel Nachblutungen und weniger um Langzeitfolgen wie etwa die Auswirkungen auf die eigene Sexualität. Da war es besonders wichtig, sich einzubringen, und wir wurden durchaus ernst genommen.
Was müsste passieren, damit medizinisch grundlose Beschneidungen nicht mehr erfolgen?
Solange die Gesetzeslage ist wie sie ist, können Eltern leider frei darüber entscheiden, ob ihr Sohn sein vollständiges Genital behalten darf oder nicht. Das Einfachste, was passieren müsste, wäre also, dass Eltern es nicht mehr tun. Dafür bräuchte es sehr viel mehr Aufklärung von allen gesellschaftlichen Kräften, die sich um Sexualaufklärung, um Menschen- und Kinderrechte kümmern. Der Bedarf an Beratung und Information ist da, das merken wir immer wieder - sowohl bei Eltern, die aufgrund ihres kulturellen Hintergrundes mit dem Thema konfrontiert sind, als auch bei Eltern, die es aufgrund von ärztlichen Ratschlägen sind. Aber natürlich ist auch der Gesetzgeber gefragt, der diese Situation ja zu verantworten hat.
Welche Rolle hat damals Ihrer Meinung nach der Blick auf kulturell-religiöse Gründe gespielt?
Der Gesetzgeber hat sich 2012 entschieden, Forderungen aus religiösen Führungsebenen umzusetzen – gegen die große Mehrheit der Bevölkerung, trotz deutlichen Protests aller pädiatrischen Fachgesellschaften und den Stimmen leidvoll Betroffener. Jungen sind seitdem hier grundsätzlich schutzlos gestellt, zahlen allein den Preis dafür. Der Weg des geringsten Widerstands, könnte man zynisch sagen.
Geht es um Beschneidung, denken viele nicht zuerst an Jungen, sondern an Mädchen. Oft ist dann auch von „Verstümmelung“ die Rede. Scheinbar wird da auch in der Öffentlichkeit ein Unterschied gemacht. Wie sehen Sie das?
Interessant ist auf jeden Fall, wie Verstümmelungen bei Mädchen von offiziellen Stellen eingeordnet werden. Die Weltgesundheitsorganisation zum Beispiel definiert vier verschiedene Eingriffstiefen, die von Formen ohne Gewebeverlust bis hin zu Eingriffen reichen, bei denen sämtliche äußerliche Genitalien abgeschnitten werden und der verbleibende Rest zugenäht wird. Alle diese Formen fallen aber – richtigerweise - unter den Begriff „Genitalverstümmelung“. Auch der deutsche Gesetzgeber geht so vor und sagt, dass bei Mädchen grundsätzlich nicht rumgeschnitten oder –gepikst werden darf. Dieser Grundsatz wird Jungen vorenthalten – mit weitreichenden Folgen wiederum auch für Mädchen und nicht-binäre Kinder.
Wie meinen Sie das?
Weil man damit nicht mehr widerspruchsfrei gegen jegliche weibliche Genitalverstümmelung argumentieren kann, wie zuletzt Gerichtsverfahren in den USA und Australien zeigten. Am Ende wachsen die einen so auf, dass das Abschneiden an Jungengenitalien normal ist, und die anderen damit, dass so etwas an allen Kindern zum Alltag gehört. Die kulturellen Brillen sind da weltweit sehr unterschiedlich. Wir wollen, dass jedes Kind unversehrt aufwachsen kann, ohne Ausnahme.
Was, denken Sie, werden Sie in zehn Jahren erreicht haben?
Ich glaube, solche Veränderungen brauchen viel Zeit. Das zeigt uns auch die Geschichte von anderen Menschenrechtsfragen. Aber wir stehen in einer großen Verantwortung, denn diese Übergriffe gehen ja jeden Tag weiter und sorgen für Leid. Allerdings wissen wir auch, dass jeden Tag Kinder geschützt werden, weil Eltern richtig informiert werden und Zweifelnde sich in ihrem Umfeld durchsetzen. Jedes Kind zählt und ist die Arbeit wert, die momentan leider im Wesentlichen von Ehrenamtlichen abhängt. Es wäre als Anfang wichtig, dass sie endlich mehr von offiziellen Stellen übernommen und dies auch sichtbar kommuniziert wird. Denn dieses Thema geht die ganze Gesellschaft an.