Kein Recht auf Vergessen für Mörder Medienanwalt zum Fall Sedlmayr: "Hätte mir ein anderes Urteil gewünscht"

Von Maximilian Matthies | 28.06.2018, 19:51 Uhr

Für Severin Müller-Riemenschneider kommt beim Recht auf Vergessen der Persönlichkeitsschutz zu kurz. Ein Interview.

Herr Müller-Riemenschneider, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden, dass die Namen der Sedlmayr-Mörder nicht aus Online-Archiven gelöscht werden müssen. Wie bewerten Sie das Urteil auch im Hinblick auf die Pressefreiheit?

Das Urteil ändert zunächst einmal nicht viel an der bestehenden Rechtslage. Diese begünstigte schon vorher weitgehend die Presse. Nach einer früheren Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Sedlmayr-Verfahren sanken die Chancen bereits, wonach eine Namensnennung, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung rechtmäßig war, später noch juristisch angreifbar wäre.

Kommentar: Kein Recht auf Vergessen: Urteil stärkt Pressefreiheit

Wie hängt das mit dem Recht auf Vergessen zusammen?

Das Urteil des Gerichts ist als Bestätigung anzusehen und führt wohl auch nicht dazu, dass künftige Entscheidungen, die das Recht auf Vergessen betreffen, nicht auch anders ausfallen könnten.

Dazu ist wichtig zu wissen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kontrolliert die Einhaltung von Mindeststandards in den einzelnen Nationalstaaten. Ich halte es durchaus für möglich, dass das Gericht auch anders hätte entscheiden können, hätte der Bundesgerichtshof vorher zugunsten des Persönlichkeitsrechts geurteilt. Es geht hierbei vor allem um eine ordnungsgemäß durchgeführte Abwägung durch die deutschen Gerichte.

Fallen Entscheidungen dazu eher auf nationaler als auf europäischer Ebene?

Über das Recht auf Vergessen in Online-Archiven wird eher auf nationaler Ebene entschieden, in Deutschland dann vom Bundesverfassungsgericht und dem Bundesgerichtshof. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kontrolliert lediglich, ob die deutschen Gerichte minimale Menschenrechtsstandards eingehalten haben. Die Abwägung zwischen Persönlichkeitsrecht und Pressefreiheit ist aber die Aufgabe der deutschen Gerichte. Anders wäre dies, wenn das Verfahren vom Europäischen Gerichtshof geführt worden wäre, die dieser die Interessenabwägung nicht bloß kontrolliert, sondern weitestgehend selbst vornimmt.

Ich hätte mir gewünscht, dass das Pendel nach sehr vielen Entscheidungen zugunsten der Meinungsfreiheit nun auch mal wieder stärker in Richtung Persönlichkeitsrecht ausgeschlagen wäre.

Also ist das Urteil aus Sicht des Persönlichkeitsschutzes zu dünn?

Es wäre gut gewesen, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Fehlentwicklung in Deutschland zulasten des Persönlichkeitsrechts korrigieren würde. Dazu hat er sicher noch in weiteren Verfahren Gelegenheit, zum Beispiel bei den angeblich zulässigen Fotoaufnahmen des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff beim Einkaufen.

Beim Sedlmayr-Mordfall handelt es sich um einen Sonderfall. Zum einen, weil sich das Verfahren um ein großes zeitgeschichtliches Ereignis mit einem hohen Informationsinteresse drehte, zum anderen hatten die Kläger auch selbst die Öffentlichkeit gesucht. Das wurde auch von den nationalen Gerichten und nun dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte berücksichtigt. Die Frage, die sich für mich stellt, ist: Wie wäre der Fall entschieden worden, wäre er nicht als so spektakulär anzusehen und hätten auch die Beschwerdeführer vorher nicht selbst den Kontakt zur Presse gesucht?

Was bedeutet das Urteil für andere Betroffene? 

Ich denke, es besteht auch mit dieser aus meiner Sicht wirklich unerfreulichen Entscheidung noch Hoffnung, dass Menschen, über die negativ berichtet wurde, löschen können, was irgendwann – auch in zulässiger Weise – über sie geschrieben wurde. Alles andere kann sonst als große Belastung empfunden werden. Die Betroffenen kommen vielleicht nicht wieder ins Berufsleben zurück oder bleiben vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Dieser Fall war aber möglicherweise nicht der richtige, um die Presse zu verpflichten, Archive auch wieder zu löschen.

Hat das Urteil noch weitere Auswirkungen als auf die Namensnennung in Online-Archiven? Wie ist es etwa mit Verlinkungen?

Beim Recht auf Vergessen gibt es im Sinne des Persönlichkeitsschutzes noch eine belastende Konstellation, wenn es um die Löschung von Verlinkungen geht. So kann man bei Eingabe seines Namens in einer Online-Suchmaschine wie Google sofort auf den jeweiligen Artikel stoßen. Das ist belastend für alle jene, deren aktueller und potentieller Arbeitgeber nach dem Namen sucht und dann feststellt, dass sich derjenige schon einmal daneben benommen hat. Dieser Fall wird durch das Urteil nicht abgedeckt.

Hilft das Recht auf Vergessen Betroffenen überhaupt?

Wer versucht gegen einen Presseartikel in einem Online-Archiv mit dem Recht auf Vergessen vorzugehen, hat es schwer. So müsste der Betroffene schon nachweisen, dass die Berichterstattung ursprünglich unzulässig war, eventuell weil die Voraussetzungen für eine Verdachtsberichterstattung nicht eingehalten worden sind, was zwar zur Löschung führen würde, aber streng genommen, nicht aufgrund des Rechts auf Vergessen.

Der Anwendungsspielraum beschränkt sich daher weitestgehend auf die Verlinkung durch Suchmaschinen. Doch auch hier haben jüngere Entscheidungen des Bundesgerichtshofs den Eindruck hervorgerufen, dass es sich bei dem Gesetz um einen zahnlosen Tiger handelt.

Wie viele Verfahren gibt es – und haben diese Aussicht auf Erfolg?

In unserer Kanzlei gibt es relativ viele Anfragen diesbezüglich. Die Urteile lassen dann aber recht lange auf sich warten, weil vor allem beim Einklagen des Rechts auf Vergessen gegenüber Google eine Verzögerungstaktik seitens des Konzerns besteht. Der Zeitraum, bis so ein Verfahren dann überhaupt erst einmal in Gang kommt, zieht sich. Auch die Entscheidungen dauern derzeit noch sehr lange. Das führt dazu, dass auch bei uns viele Verfahren geführt werden, aber noch nicht zum Abschluss gekommen sind. Ich gehe davon aus, dass sich in den nächsten Monaten zeigen wird, ob das Schwert des Rechts auf Vergessen tatsächlich so scharf ist, wie es sich Betroffene wünschen.

An wen sollten sich Betroffene wenden?

Wer verhindern möchte, dass eine Verlinkung auftaucht, kann gegen den entsprechenden Suchmaschinenbetreiber vorgehen. Er muss dann darüber aufklären, dass ein rechtswidriger Artikel vorliegt und dabei auch erläutern, woraus sich die Rechtswidrigkeit ergibt. Das ist aber durch die hohen Voraussetzungen, die der Bundesgerichthof an ein Informationsschreiben stellt, schwierig und ohne anwaltliche Unterstützung eigentlich nicht machbar.

Wer derzeit gegen eine Zeitung erwirken möchte, dass sein Name aus einem Online-Archiv gelöscht wird, für den sieht es eher schlecht aus. Es müsste überprüft werden, ob eine Berichterstattung zum Veröffentlichungszeitpunkt zulässig war. Wird dies bejaht, kommen Betroffene nur sehr schwer weiter.