Nutella besteht zu 55,9 Prozent aus Zucker! Deckt das den Tagesbedarf eines Kindes oder sollten Eltern noch einen guten Schluck Cola nachgießen?
In der vergangenen Woche hat Corinna Berghahn ein Plädoyer für mehr Langeweile in der Erziehung formuliert – und ihren Brieffreund gefragt: „Verbietet ihr Euren Kindern Süßigkeiten?“ Dies ist die Antwort von Daniel Benedict:
Liebe Corinna!
Im Tonfall der überführten Sünderin sprach mich neulich eine Freundin an: „Nutella besteht zu 55,9 Prozent aus Zucker. Wusstest Du das?“ Ich war schockiert. Das ist doch viel zu wenig! Aber wen wundert’s. Wer ganze Urwälder voller Palmöl ins Glas kippt, hat am Ende keinen Platz mehr für Zucker. Ich selbst esse deshalb nur Rübensaft. Zuckergehalt: 66 Prozent. Da schmeckt man wenigstens was.
In den 70ern war Angst vor Zucker ja noch kein so großes Thema. Dass ich als Kind nie Cola getrunken habe, lag jedenfalls nur an einer damals gängigen Theorie, wonach sie einen von innen auffrisst. (Meine Mutter hat zum Beweis einen Löffel Hack in Cola aufsprudeln lassen, als wäre es Salzsäure.) Statt Brause tranken wir aggressiv süßen Nektar und Erfrischungsdrinks aus Eistee-Granulat oder Waldmeistersirup. Wenn’s nichts zu naschen gab, habe ich Zuckerbrote geschmiert oder den Zucker einfach pur gelöffelt. Eine der ersten von mir selbst zubereiteten Speisen war Zucker-Ei. Dafür verrührt man Eischnee mit dem Dotter und reichlich Zucker. Wegen der Salmonellengefahr dürfte man das rohe Ei heute nicht mal mehr ungesüßt essen. Ich habe eine Hochrisiko-Kindheit überlebt.
Als Vater bin ich jetzt viel ernährungsbewusster. Vor ein paar Jahren hat die Kinderärztin uns mal zu Fruchtsaft geraten. Ich glaube, damit das Baby mehr Eisen aufnimmt. Wir waren entsetzt: In Saft ist doch Zucker! Am Anfang müssen wir bei dem Thema sehr rigoros gewesen sein; nach der Stillzeit war das immer schwerer durchzuhalten, trotz ausgefuchster Strategien: Schokolade haben wir den Kindern zum Beispiel als eine Art Aufschnitt beschrieben, damit sie wenigstens Brot dazu essen. Den Frontverlauf unserer Niederlagen kann man jetzt an jeder Stulle ablesen. Zuerst gab’s zum Frühstück Vollkornbrot mit vereinzelten Schokostreuseln. Schritt für Schritt haben die Kinder uns runtergehandelt; heute essen sie Butter-Brioche mit doppelt Eszet-Schokolade und fordern, alle in der Packung zerbrochenen Täfelchen ganz ohne Brot zu essen.
Was das eigentliche Naschen angeht, versuchen wir es mit Ritualen. Beim Abholen aus der Kita gibt es abgezählte Gummibärchen. Das Regularium ist strikt und eindeutig. Die Kinder feilschen mit uns trotzdem täglich im Gestus des kalten Entzugs. Hoher Blutzucker soll Kinder hyperaktiv und sogar aggressiv machen. Erstaunlicherweise hat Verzicht genau dieselbe Wirkung. Zucker ist eine starke Droge, und wir sind im Kampf dagegen schwächer, als ich mir wünsche. Wir trösten uns damit, dass die Kinder nicht dick sind und fleißig Zähne putzen. Zumindest das klappt ganz gut. Wenn auch nur, weil sie dabei Cartoons gucken dürfen – womit wir tief in der nächsten Suchtproblematik stecken. Erziehung ist eine Form des seriellen Versagens.
Herzliche Grüße!
Dein Daniel
PS: Wenn man Kindern einen Namen gibt, kennt man sie ja noch gar nicht. Findest Du immer noch, dass ihr damals die richtige Wahl getroffen habt?
Das Buch zur Kolumne gibt es jetzt auch:
Daniel Benedict/Corinna Berghahn: „Vater, Mutter, Kind – 99 Elternbriefe aus dem Alltag.“ Das Buch kostet 19,99 Euro und ist erhältlich in den Geschäftsstellen Ihrer Tageszeitung, online unter noz.de/shop sowie telefonisch unter 05 41/310-10 44 (Mo.–Fr. 9–16 Uhr).