Mit dem Shutdown steigt der Medienkonsum. Ist das schlimm? Ein pädagogischer Leitfaden von unserem Elternkolumnisten.
In ihrer letzten Elternkolumne hat Corinna Berghahn beschrieben, wie ihr Corona-Alltag sich von Familienfotos auf Instagram unterscheidet. Dann hat sie ihren Brieffreund gefragt: "Guckt ihr in der Krise auch so viel fern?" Dies ist die Antwort von Daniel Benedict:
Liebe Corinna,
es stimmt: Im Shutdown gucken wir alle mehr fern. Allerdings löst sich dieses Corona-Probleme von selbst: Einerseits steigt der Medienkonsum massiv – andererseits fällt die U-Untersuchung aus, bei der man sich dafür schämt.
Das Meiste kann man ja sowieso nicht zu den täglich 20 Minuten zählen, die uns die Kinderärztin flimmern lässt. Facetime zum Beispiel: Das ist lebenswichtiger Austausch, der unserer geistigen Gesundheit dient. Wenn auch nur der von Kindern und Großeltern. Mich selbst stresst das entsetzlich. Die aufpeitschende Wirkung, die man dem Fernsehen zuspricht, ist bei Video-Telefonaten ja viel extremer. Nach zwei Minuten springen alle wie die Irren um ein Handy herum, auf dem nicht mehr zu sehen ist als das unscharfe Ohr meiner Mutter. Für mich das wahre Rätsel der Medienwirkungsforschung.
Was wir auch gern gucken: abgefilmte Kultur. Gestern haben wir das dritte Stück vom Theater Jaro gestreamt. Ich empfehle, sofort dasselbe zu tun. Es ist sehr gut. Es gibt Dinos, Seehunde und Martin Pölzer – einen Schauspieler, dessen Figuren sich so hartnäckig der Lebenshektik verweigern, dass augenblicklich aller Pandemie-Stress von mir abfällt. Und die Kinder gucken es auch gern. Ist das Medienkonsum, nur weil‘s am PC läuft? Natürlich nicht! Gleich in der ersten Shutdown-Woche habe ich außerdem eine Buster-Keaton-Box gekauft. Stummfilm-Komik: Das ist doch fast schon Literatur. Zumal die Kinder erwarten, dass ich die Gags in Echtzeit mitspreche. Mehr Oral History geht nicht. Das kann gar nicht schaden.
Aber natürlich, ich gebe es zu: Mein bildungssattes Namedropping beschönigt die Sachlage. Auch wir haben ein Probeabo bei Disney+ abgeschlossen. Mit den Trickfilmen von Netflix und Amazon Prime sind wir durch. Vorgestern haben die Kinder einen kompletten „Ice Age“-Film am Stück gesehen – nur weil ich ein Interview abtippen musste. Das war klassisches Fernseher-Parken; und es dauerte auch länger als 20 Minuten.
Wir trösten uns damit, dass es vorübergehend ist. Schleifen sich trotzdem Gewohnheiten ein, die wir nach Corona nicht loswerden? Ich glaube nicht. Eben hat mein kleiner Sohn mich gefragt, ob er bald wieder einen „Glückstag mit ganz viel gucken“ machen darf. „Wegen Corona!“ Der Zusatz beweist ja, dass sie den Ausnahmecharakter der Sichtungsorgien noch erkennen. Alles ist anders.
Verrückterweise denke ich das beim Fernsehen oft selbst. Und zwar, wenn ich den Kindern alte „Löwenzahn“-Folgen unterjuble. Oder „Neues aus Uhlenbusch.“ Da zeige ich ihnen, wie meine eigene Kindheit aussah, mit ihren Unisex-Frisuren, den wurstengen Ringelpullis, mit dubiosen Bonbons vom Tante-Emma-Laden und Erwachsenen, die als Mittfünfziger aussahen wie heute selbst 70-Jährige nicht. Damals dachte ich: Das werde ich sein. Aber es ist wirklich alles anders. Ich habe mich auf eine Welt vorbereitet, die es lang schon nicht mehr gibt. Und manchmal glaube ich, diese Selbstverständlichkeit nimmt mich mehr mit als meine Kinder der wirkliche Ausnahmezustand.
Herzliche Grüße!
Dein Daniel
PS: Habe eben bemerkt, dass ich meine Fernsehkritiken systemrelevant sind. An meinem Selbstbild geht das stramm vorbei. Wie ist das bei dir?