Was darf man in der Coronakrise mit seinen Kindern noch machen? Hundertfüßer fangen zum Beispiel. Eine Jagdgeschichte.
In ihrem letzten Brief hat Corinna Berghahn ihren Homeoffice-Horror geschildert und ihren Kollegen gefragt: „Wir haben einen Garten, in den wir die Kinder jagen können. Was tut ihr in der Mietwohnung?“ Dies antwortet Daniel Benedict:
Liebe Corinna!
Corona bedeutet ja für jeden was ganz Anderes. Denis Scheck zum Beispiel empfiehlt auf seiner Lektüreliste Prousts „Verlorene Zeit“. Sein Argument: „Wann, wenn nicht jetzt?“ Logisch. Manche sind so verzweifelt unbeschäftigt, dass sie 5200 Seiten schaffen. Ich nicht. Aber dafür habe ich auch keine Angst um den Arbeitsplatz und muss mit meinen Kita-Kindern nicht mal Hausaufgaben machen. Im Homeoffice arbeite ich seit sechs Jahren. Und mein Corona-Alltag ist – eigentlich schön.
Zum ersten Mal im Leben halte ich bei der Arbeit die Stundenzahl ein. Ich koche täglich. Wir haben immer frischen Kuchen im Haus. Putzen tun wir jetzt auch selbst. Alles ist wie früher, in meiner eigenen Kindheit, als meine Mutter fast immer zuhause war. Im Grunde lebe ich selbst wieder wie ein Kind – komplett in den Tag hinein. Auf einmal ist ja alles nur vorläufig. Werde ich im Mai meine Kur antreten? Macht Dänemark vor unserem Urlaub die Grenzen auf? Wird mein Sohn eingeschult? Ich habe keine Ahnung, was kommt, und führe ein wildes, planloses Leben. Am wenigsten Streit gibt’s im Freien, wo wir uns treiben lassen, bis die Kälte uns abends ins Haus treibt.
Weil du fragst, wie ich die Kinder in Berlin ohne Garten beschäftige: In Wahrheit habe ich einen, den Tiergarten. 210 Hektar. Selbst wenn man die gesperrten Spielplätze abzieht, schöpfen wir das nicht aus. Neulich haben wir einen rostigen Topf gefunden und ihn, mit allem Laub und Modder, auf den Balkon gestellt. Als Terrarium, für das wir jetzt jeden Nachmittag jagen gehen. Mein Ehrgeiz zielt auf Hunderfüßer, geschickte, blitzschnelle Gegner und trotz des geringeren Zählwerts viel besser als Tausendfüßer.
Vor 300 Millionen Jahren waren Tausendfüßer angeblich zwei Meter lang und fraßen Beute im Format von Rehen. Was ist davon geblieben? Wurmartige Waldbewohner, die sich bei Lichteinfall totstellen und als Gliederfußkringel einsammeln lassen. Auch interessant: Gestern hab ich entdeckt, dass Regenwürmer nicht nur im Boden leben, sondern auch unter der fauligen Rinde von Altholz. Wenn die Nudel-Knappheit anhält, wird das wertvolles Herrschaftswissen. Mich selbst hat es mehr umgehauen als meine Kinder, denen Wunder ganz selbstverständlich sind. Corona haben sie genauso lässig akzeptiert.
Ich eigentlich auch. Ich fühle mich nicht eingeschränkt. Der Verzicht öffnet nur neue Möglichkeiten. Nach der Kita wollen die Kinder sonst immer auf einen faden Spielplatz; längere Gänge lehnen sie ab. Jetzt fahren wir stundenlang mit Roller und Kinderrad durch die Welt. Ich selbst übe tollkühn auf ihren Skateboards; noch drei Quarantäne-Wochen und ich springe den Kickflip. Oder, auch denkbar, ich breche mir die Beine und habe dann doch Zeit für Proust.
So also ist die Stimmung bei uns: heiter und fröhlich erschöpft. Das hat etwas Schwindelerregendes, wenn ich gleichzeitig Italiens Kliniken kollabieren sehe oder die Eishalle, in der Spanien Tote aufbahrt. Natürlich habe ich auch Sorgen – dass meine Eltern sich anstecken könnten, dass in den Schaufenstern „Geschäftsaufgabe“ steht, dass irgendwann jeder von uns einen Toten kennt und die Katastrophe da ist, die nicht weit von hier schon tobt. Noch aber sind wir bloß im Ausnahmezustand. Das schaffe ich. Das ganze Familienleben ist einer, und wir beherrschen ihn gut.
Herzliche Grüße
Dein Daniel
PS Was vermisst Du in der Krise am meisten?