Dieselfahrer, die Autobauern bei manipulierten Motoren keine Absicht nachweisen konnten, scheiterten bisher von dem Bundesgerichtshof. Nun vollzieht dieser eine Kehrtwende. Was Dieselfahrer jetzt wissen müssen – und ob es sich bald lohnt, auf jeden Fall zu klagen.
In einem mit Spannung erwarteten Urteil zog der Diesel-Senat am Montag anhand von drei exemplarisch abgehandelten Fällen neue Leitplanken für die künftige Rechtsprechung ein. Inwieweit sind die Karlsruher Richter auf die Vorgaben des EuGH eingegangen? Und wer könnte profitieren?
Wie war die Ausgangslage?
Der BGH hat Hunderttausenden Betroffenen des VW-Abgasskandals den Weg zu Schadenersatz geebnet. Aber seit seinem ersten und wichtigsten Urteil aus dem Mai 2020 galt stets: Ansprüche hat nur, wer vom Autobauer über den Schadstoffausstoß auf sittenwidrige Weise getäuscht wurde.
Beim VW-Skandalmotor EA189 war das der Fall. Denn hier wurde eine Betrugssoftware so programmiert, dass die Autos in Behördentests in einen speziellen Modus wechselten – und dann weniger giftige Abgase freisetzten als tatsächlich im Straßenverkehr.
Abgasskandal: Was ist jetzt anders?
Ein Urteil aus Luxemburg rüttelte an der bisherigen BGH-Rechtsprechung. Denn der EuGH hatte die Hürden in einem Mercedes-Fall aus Deutschland im März deutlich niedriger angesetzt. Schadenersatz-Ansprüche könnten demnach schon bei einfacher Fahrlässigkeit entstehen – und nicht erst dann, wenn bewusst geschummelt und getrickst wurde.
Was heißt das für Dieselfahrer, die bisher leer ausgingen?
Sie könnten sich neue Hoffnung machen. Denn jetzt hat sich der BGH auch mit den temperaturgesteuerten Abschalteinrichtungen befasst, bei denen er wegen fehlender bewusster Täuschung des Verbrauchers bisher keine Veranlassung für Schadenersatz sah: Thermofenster zum Beispiel.
Demnach sollen Verbraucher, in deren Wagen eine unzulässige Abschalteinrichtung wie etwa ein sogenanntes Thermofenster zur Abgasreinigung verbaut wurde, grundsätzlich Anspruch auf Entschädigung haben.
Thermofenster drosseln je nach Außentemperatur die Verbrennung direkt im Motor oder fahren sie sogar ganz herunter – um den Motor zu schützen, wie die Hersteller sagen. Kritiker werfen ihnen vor, auch hier darauf geschaut zu haben, dass die Autos die Grenzwerte vor allem unter Test-Bedingungen einhalten. Sie sind in unterschiedlicher Bandbreite in Millionen von Autos verbaut. Auch andere Funktionalitäten, durch die die Abgasreinigung nicht durchgängig gleich funktioniert, stehen nun im Fokus.
Wie könnte ein Schadenersatz aussehen?
Das ist eine Frage, die den BGH bei der mündlichen Verhandlung am 8. Mai über fünf Stunden hinweg beschäftigte. Diskutiert wurden verschiedene Szenarien, darunter auch die Rückabwicklung des Kaufes und Rückerstattung des Kaufpreises.
Nun ist klar: Es geht um eine Art „kleineren“ beziehungsweise „mittleren“ Schadenersatz. In welcher Höhe genau dies der Fall sein kann, müssen die Instanzgerichte jeweils entscheiden. Die Vorsitzende Richterin sprach von 5 bis 15 Prozent des Kaufpreises. Ein Sachverständigen-Gutachten sei dafür nicht nötig.
Der finanzielle Ausgleich werde dafür gezahlt, dass dem Auto eine Stilllegung drohen könnte. Kläger müssen im Verfahren dann zunächst eine Abschalteinrichtung nachweisen und Hersteller müssten im zweiten Schritt darlegen, dass sie kein Verschulden treffe.
Schadenersatz bei Abgasskandal: Wie soll das errechnet werden?
Das ist ziemlich kompliziert. Denn was ist eine unzulässige Abschalteinrichtung? Alle Thermofenster oder nur die, die sich außerhalb einer bestimmten Temperatur-Bandbreite bewegen? Und ist ein Auto mit unzulässiger Abschalteinrichtung, die dann aber mit Software-Updates entfernt wurde, wirklich weniger wert, als ein Auto, das von vornherein keine Abschalteinrichtung hatte? Und wenn ja, wie soll der Minderwert dann in Euro und Cent beziffert werden?
Und was ist mit Autos, deren Motoren erst nachträglich vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) beanstandet wurden oder bis heute eine Freigabe haben? Kann man dafür nur die Autohersteller haften lassen? Die Autobauer hoben bei der Verhandlung am 8. Mai beispielsweise auf den „unvermeidbaren Verbotsirrtum“ ab - dass sie also beim besten Willen nicht hätten wissen können, dass eine Abschalteinrichtung nicht rechtens ist.
Wegen des EuGH-Urteils liegen derzeit etwa 2000 Fälle am BGH auf Eis. Zehntausende Fälle sind bei den unteren Instanzgerichten anhängig. Sie dürften die vom BGH angedachte pauschalierte Regelung zum Schadenersatz begrüßen. Experten rechnen damit, dass Dieselklagen auf dieser Basis künftig schneller und einfacher entschieden werden können. Der BGH hatte drei Musterfälle der Autobauer Mercedes, Audi und VW verhandelt.
Lohnt es sich bald, auf jeden Fall zu klagen?
Das bleibt abzuwarten. Schon unter alter Rechtslage war es bisweilen so, dass ein erfolgreicher Kläger sich die gefahrenen Kilometer und die Nutzung des Autos anrechnen lassen musste – und unter dem Strich dann kaum Geld herausbekam. Das könnte demnächst aber anders sein, informieren lohnt sich.
Diesel-Skandal: BGH kommt Autokäufern bei Entschädigung entgegen – richtig so!
EuGH-Urteil lässt Bundesrichtern wenig Spielraum
Vor dem Hintergrund einer EuGH-Entscheidung aus dem Frühjahr diesen Jahres, hat der Bundesgerichtshof eine Kehrtwende vollzogen und die Hürden für Schadenersatz-Klagen von Dieselfahrern hierzulande deutlich gesenkt. Europas oberste Richter hatten dem BGH nicht viel Spielraum gelassen.
Bislang durften Inhaber eines Diesel-Pkw lediglich auf Schadenersatz hoffen, wenn dem Autohersteller eine bewusste Täuschung beim tatsächlichen Schadstoffausstoß nachgewiesen werden konnte, beispielsweise durch eine entsprechend programmierte Schummelsoftware.
Der Einbau von Abschalteinrichtungen, die die Abgasreinigung bei hohen oder niedrigen Temperaturen herunterregeln – sogenannte Thermofenster – galten bislang jedoch immer als nicht zu ahndende Fahrlässigkeit. Damit ist es nun vorbei.
Neue Klagewelle zu erwarten
Mercedes, Audi und VW droht nun eine neue Klagewelle; einige Tausend Dieselkäufer können wohl auf eine finanzielle Entschädigung hoffen. Und es ist ja auch richtig, denn nicht die Kunden haben das Problem verursacht. Es waren die Autohersteller, die offensichtlich davon ausgegangen sind, europäische Vorschriften zum Umweltschutz nicht wirklich ernst nehmen zu müssen.
War der Schaden, der Dieselfahrern entstanden ist, bislang abstrakt, so könnte sich das bald ändern. Denn nach einem Verwaltungsgerichtsurteil vom Februar 2023 droht die Stilllegung von Dieselfahrzeugen mit illegalem Thermofenster. Der Schaden der Dieselkäufer könnte also real werden. Auch von daher überzeugt der jüngste Kurswechsel der Bundesrichter.
Neben den Verbrauchern sind die Anwälte beider Seiten die Gewinner des Tages. An der zu erwartenden Klagewelle werden sie ordentlich verdienen.