Kritik an 9/10-Regelung Hohe Beiträge zur Krankenversicherung belasten viele Frauen

Von Waltraud Messmann | 03.11.2015, 08:00 Uhr

Als die 68-jährige K. aus Meppen vor sechs Jahren in Rente ging, war die Welt zunächst noch in Ordnung: Laut Rentenbescheid stand ihr eine Rente in Höhe von monatlich 594,74Euro zu. Nur vier Monate später aber fiel die Frau aus allen Wolken. Schuld ist die 9/10-Regelung der gesetzlichen Krankenversicherung.

Obwohl sie jahrzehntelang bei der AOK eingezahlt hatte, teilte man ihr mit, dass sie als Rentnerin nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung bleiben dürfe. Stattdessen müsse sie sich freiwillig versichern. Wegen der viel höheren Beiträge bleiben Frau K. von ihrer Rente jetzt nur noch monatlich 251,99 Euro.

Frau K. ist eines von vielen Opfern der weithin unbekannten 9/10-Regelung. Nach dieser wird nur Pflichtmitglied in der Krankenversicherung für Rentner, wer in der zweiten Hälfte der Erwerbszeit vor Einreichen des Rentenantrags zu 90 Prozent gesetzlich versichert war. Wer etwa mit 15 Jahren in das Berufsleben eintritt und 50 Jahre arbeitet, muss in den letzten 25 Jahren vor Stellung des Rentenantrags 90 Prozent, also 22,5 Jahre gesetzlich krankenversichert gewesen sein, um Pflichtmitglied in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) zu sein. Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber verhindern, dass Privatversicherte bei zunehmenden Kosten im Alter irgendwann in die günstigere gesetzliche Krankenversicherung wechseln und sich damit die Rosinen aus beiden Systemen picken.

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Es trifft die Falschen

Doch häufig trifft es die Falschen: Denn als Pflichtmitglieder unerwünscht sind durch die 9/10-Regelung oft Frauen, die ihr Berufsleben jung begonnen haben, Kinder aufgezogen und später in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zurückgekehrt sind. Meist um 1950 geboren ist ihr Pech, dass sie mit Beamten, Soldaten oder Richtern verheiratet waren oder sind und über ihre Männer in den Erziehungszeiten zeitweise privat versichert waren. Zur Bemessung der Beiträge zur freiwilligen Krankenversicherung werden auch die Bezüge des Ehepartners sowie sonstige Einkünfte herangezogen. Die Folge ist, dass diese Frauen bis zu zwei Drittel ihrer ohnehin kleinen Rente für eine freiwillige gesetzliche Krankenversicherung aufwenden müssen.

„Was ist unserem Staat die Leistung meiner Frauengeneration eigentlich wert?“, fragt sich jetzt Frau K. Als die Frauen ihrer Generation Kinder bekamen, mussten sie weitgehend ohne staatliche Hilfe wie Kinderbetreuungsgarantie, Kita, Elterngeld, Elternzeit und Pflegeeinrichtungen für die Alten ihre familiären Verpflichtungen erfüllen. Auch die kostenlose Weiterversicherung von Müttern und Kindern durch die Elternzeit bei der gesetzlichen Krankenversicherung der Mutter, wie es sie heute gibt, gab es damals noch nicht. Ganz zu schweigen davon, dass der Ehemann bis 1972 die Arbeitsstelle der Frau ohne deren Einverständnis kündigen konnte, wenn sie ihren hauswirtschaftlichen Pflichten seiner Ansicht nach nicht nachkam.

Typischer Lebenslauf

Typisch für diese Frauengeneration ist aber auch, dass sie oft früher berufstätig war, als das heute der Fall ist: Frau K. zum Beispiel begann bereits mit 14 Jahren eine dreijährige Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau. Danach blieb sie noch drei Jahre in ihrer Ausbildungsfirma, um dann zehn Jahre als Büroangestellte in einem anderen Unternehmen zu arbeiten.

Mit 29 Jahren brachte sie ihr erstes Kind zur Welt, zwei Jahre später das zweite. „Als die Kinder kamen, musste ich meinen Beruf aufgeben. An eine Halbtagsstelle war 1979 nicht zu denken. Auch Betreuungsmöglichkeiten für ganz kleine Kinder gab es in den 1970er- und 1980er- Jahren so gut wie keine“, erinnert sie sich. Außerdem waren da auch noch Onkel und Tante, die Frau K. regelmäßig betreuen musste. Später übernahm sie die Pflege des kinderlosen Paares.

Erst als ihre beiden Kinder dreizehn und elf Jahre alt waren, konnte die Meppenerin wieder arbeiten gehen. An drei Vormittagen arbeitete sie pflichtversichert als Raumpflegerin in einem Altenheim. Das tat sie dann 20 Jahre lang durchgehend bis zur Rente mit fast 63 Jahren. Die 90-Prozent-Marke der 9/10-Regelung hat die Meppenerin trotzdem verfehlt und fühlt sich jetzt um den Lohn für ihre Lebensleistung betrogen. „Nur weil ich vier Jahre und 18 Tage, rechnerisch also 2,9 Jahre, in der zweiten Hälfte meines Berufslebens über meinen Mann, einen Beamten, privat versichert war, entzieht mir der Gesetzgeber nun monatlich etwa 260,00 Euro netto von meiner Rente in Höhe von 594,74 Euro“, sagt sie. „Die Regelung diskriminiert Frauen und Müttern, die sich viele Jahre für ihre Kinder und pflegebedürftigen Angehörigen eingesetzt haben.“

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Nicht informiert

Jetzt wollen sich die Opfer wehren: An ihrer Spitze Eva Koslowski, die seit ihrem Renteneintritt engagiert den Aufbau eines Netzwerks vorantreibt. Die Bielefelderin hat zwei Kinder und war rund 30 Jahre sozialversicherungspflichtig berufstätig. Von 406,89 Euro Rente zahlt sie 225,68 Euro Krankenversicherungsbeitrag. Ihr bleiben also nur 181,21 Euro.

Besonders wütend macht die Betroffenen, dass sie von der 9/10-Regelung erst erfahren, als sie ihren Rentenantrag bereits gestellt hatten. „Da fehlen einer Frau vier Tage, einer anderen elf Tage, und das nur, weil sie nicht beraten wurden“, sagt die Bielefelderin. Auch Koslowski selbst fehlten zu den 90 Prozent nur wenige Monate. „Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich natürlich länger gearbeitet“, betont sie. Doch weder die Krankenkasse noch die Rentenversicherung hätten sie vorgewarnt. Sie sei wie viele andere in die Falle getappt. Als sie das erkannte, habe sie noch versucht, ihren Rentenantrag zu stoppen, berichtet die Bielefelderin. Doch da habe es geheißen, das sei nicht mehr möglich. Jetzt klagt Koslowski vor dem Sozialgericht in Detmold. Auch ihre Kasse hat die Bielefelderin verklagt. Das Verfahren liegt beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen in Essen.

Feldzug

Auf ihrem Feldzug gegen die 9/10-Regelung müssen die Frauen immer wieder gegen Vorurteile kämpfen. „Da kommt dann gern das Klischee vom wohlhabenden Beamten, der ja genug verdient habe, um solche Beiträge zu finanzieren, auf den Tisch“, so Koslowski. Aber: „Unsere Männer waren und sind im mittleren Dienst, da macht man keine großen Sprünge“, stellt sie klar.

Witwen, die den Beitrag nicht über die Pension des Mannes abfangen könnten, treffe es aber natürlich besonders hart, meint Koslowski. So blieben einer verwitweten Mitstreiterin aus München nach Abzug von Krankenversicherungsbeitrag und Miete nur noch 180 Euro zum Leben.

Die Schar von Koslowskis Mitstreitern wird immer größer. An einer Petition mit insgesamt 1285 Unterschriften aus ganz Deutschland haben sich auch 58 Bürger aus dem Raum Meppen beteiligt. Mehr als 130 Betroffene haben Eingaben beim Petitionsausschuss des Bundestages eingereicht.

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Petitionsausschuss

Wie eine Nachfrage unserer Redaktion in Berlin ergab, befinden sich einige dieser Petitionen derzeit im parlamentarischen Verfahren. Das bedeutet, dass Stellungnahmen des zuständigen Bundesministeriums der Gesundheit eingeholt wurden und zwei Berichterstatter – ein Abgeordneter der Koalition und ein Abgeordneter der Opposition – die Petitionen prüfen, um dem gesamten Ausschuss jeweils ein Votum zur Abstimmung vorzuschlagen. Wann das allerdings so weit sein werde, wisse man nicht, hieß es in der Pressestelle des Ausschusses. Für die Abwicklung von Petitionsverfahren gebe es keine festen Fristen.

Immerhin: Fünf Petitionen, in denen die Änderung 9/10-Regelung gefordert wird, wurden in dieser Wahlperiode bereits abgeschlossen. In allen Fällen habe der Petitionsausschuss nach Prüfung der Sachlage keine Änderung der geltenden Rechtslage in Aussicht stellen können, hieß es. „Der Ausschuss empfahl daher, das Petitionsverfahren abzuschließen.“

Für den Fall, dass ihre Initiativen auf Bundesebene nicht zum Erfolg führen, haben die Frauen aber schon einen Plan B in der Tasche: „Dann gehen wird mit einer Sammelklage vor den Europäischen Gerichtshof“, kündigt Koslowski an. „Und da machen alle mit. Da können Sie sicher sein.“

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