Kinderkrankheiten wie Windpocken, Masern oder Mumps bekommen immer häufiger auch Erwachsene. Weshalb das so gefährlich ist und warum der Erfolg des Impfens gleichzeitig das größte Problem daran ist, erklärt Dr. Jan Leidel, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (Stiko), im Interview.
Nehmen Kinderkrankheiten bei Erwachsenen wirklich zu?
Ja, so sieht es zumindest aus. Wenn ansteckende Krankheiten in der Bevölkerung sehr häufig sind, man sie also schon früh im Leben durchmacht, und wenn man danach die Krankheit nicht noch einmal bekommt, spricht man von Kinderkrankheiten. Das hat übrigens nichts mit der Gefährlichkeit einer Krankheit zu tun. Wird die Krankheit durch Impfen seltener, steigt der Anteil der Älteren an den Erkrankten. Gleichzeitig steigt aber nicht unbedingt die absolute Zahl.
Bei welchen Krankheiten trifft das besonders häufig zu?
Das trifft bei den Krankheiten zu, gegen die wir impfen können. Also Masern zum Beispiel, Windpocken oder auch Keuchhusten. Bei Keuchhusten können wir zum Beispiel gar nicht mehr von Kinderkrankheit im eigentlichen Sinn sprechen. Das Durchschnittsalter von Keuchhustenerkrankten liegt heute bei knapp 40 Jahren.
Warum ist das so?
Bei den Kindern denken die Eltern meist noch an die Schutzimpfungen, und durch die Vorsorgeuntersuchungen sind die Kinder auch häufiger beim Arzt. Ältere Kinder oder Jugendliche sind glücklicherweise ja meist so gesund, dass sie selten zum Arzt müssen. Dann werden Auffrischimpfungen vergessen und fehlende Impfungen nicht nachgeholt. Die Kleinen sind also meist gut geschützt und erkranken selten, bei den Älteren nehmen die Impflücken zu, die Erkrankung wird häufiger. Auf diese Weise verschiebt sich die Erkrankung in höhere Altersgruppen.
Weshalb ist das so gefährlich?
Das ist gefährlich, weil bei manchen der sogenannten Kinderkrankheiten die Komplikationen im Erwachsenenalter häufiger werden. Das ist zum Beispiel bei Windpocken der Fall oder auch bei Mumps. Bei einem Viertel der betroffenen Männer führt etwa Mumps zu einer Hodenentzündung, die unfruchtbar machen kann. Außerdem stecken erkrankte Erwachsene häufiger ihre eigenen noch ungeschützten Kinder an. Das spielt vor allem beim Keuchhusten eine Rolle, der im Säuglingsalter besonders gefährlich ist.
Steigt auch die Zahl der Impfverweigerer?
Ich habe den Eindruck, dass die Zahl der impfskeptischen Eltern in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Allerdings müssen wir zwei Gruppen unterscheiden. Es gibt einmal die Menschen, die aus religiösen und weltanschaulichen Gründen ihre Kinder grundsätzlich nicht impfen lassen oder auch aus völliger Unkenntnis heraus. Das sind aber nicht viele. Je nachdem, welche Untersuchung man anführt, sind das zwischen einem und drei Prozent der Eltern. Aber die zweite Gruppe, und das sind schätzungsweise etwa 30 Prozent der Eltern, haben eine weitverbreitete Skepsis, die einhergeht mit Skepsis gegenüber der ganzen wissenschaftlichen Medizin. Es gibt eine Sehnsucht der Menschen nach alternativen Heilmethoden, sanfter Medizin. In dem Zusammenhang wird das Impfen zunehmend kritisch hinterfragt. Häufig sind diese Eltern eher überdurchschnittlich gebildet.
Aber das Impfen hat auch Erfolge zu verbuchen.
Das stimmt, aber genau dieser Erfolg ist das größte Problem. Er führt zu mehr Impfskeptikern. Denn durch das Impfen sind Krankheiten verschwunden, die früher sehr gefürchtet waren, etwa die Pocken. Wenn Krankheiten nur noch äußerst selten vorkommen oder gar eliminiert sind, verlieren sie ihren Schrecken. Auf der anderen Seite steigen dazu relativ die Ängste vor möglichen Nebenwirkungen und Komplikationen der Impfungen an.
Welche Impfungen sind aus Ihrer Sicht wichtig und empfehlenswert?
Fast alle Impfungen, die in Deutschland angeboten werden, sind sinnvoll und richtig. Die meisten Eltern befolgen auch die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission. Als besonders empfehlenswert hervorzuheben ist hier die HPV-Impfung, also die gegen die humanen Papillomaviren. Diese Viren können etwa Gebärmutterhalskrebs und dessen Vorstufen auslösen. Leider hat sich diese Impfung in Deutschland noch nicht richtig durchgesetzt. Während in Großbritannien fast 90 Prozent der Mädchen und jungen Frauen geimpft werden, dümpeln wir in Deutschland bei 30 bis 40 Prozent herum. Das ist sehr schade, denn die Vorbehalte, die viele haben, sind unbegründet.
Warum sind viele Menschen im Bezug auf die HPV-Impfung so skeptisch?
Als die Impfung empfohlen wurde, wurde regelrecht Stimmung gegen sie gemacht. Kritiker bemängelten etwa, dass man noch gar nicht wisse, ob sie wirklich die entsprechenden Krebserkrankungen verhindern könnte oder nur die Vorstufen. Dabei ist das Unsinn, denn ohne Vorstufen gibt es keinen Krebs. Außerdem glaubten einige, dass man nicht wisse, wie lange der Schutz anhält. Doch heute wissen wir, dass er mindestens zehn Jahre hält und aufgefrischt werden kann. Auch die Sicherheit einer HPV-Impfung wurde kritisiert, weil zwei Frauen nach dieser Impfung gestorben sind. Mittlerweile sind weltweit viele Millionen Dosen des Impfstoffs angewendet worden. Er hat sich als besonders sicher erwiesen. Ein Zusammenhang zwischen den beiden Todesfällen und der Impfung hat nach allem, was wir heute wissen, nicht bestanden. Und dann gibt es aus der Luft gegriffene Sorgen, man würde durch die Impfung unfruchtbar. Manche Eltern fürchten ihre Töchter würden nach der Impfung ein hemmungsloses Sexleben beginnen und ähnlicher Unsinn mehr.
Von welchen Impfungen würden Sie abraten?
Abraten würde ich von der BCG-Impfung, also der gegen Tuberkulose. Hier steht der Nutzen nicht mehr in Relation zu den möglichen Nebenwirkungen. Darüber hinaus raten wir von der Schluckimpfung gegen Kinderlähmung mittlerweile ab. Den Impfstoff per Spritze zu verabreichen ist sicherer. Dann gibt es noch Impfungen, die zwar empfehlenswert, aber nicht unbedingt notwendig sind. Das ist etwa bei der Impfung gegen Rotaviren der Fall. Diese Viren sind eine der häufigsten Ursache für Durchfallerkrankungen vor allem bei Kindern unter zwei Jahren. Da die Erreger sehr ansteckend sind, erkranken jedes Jahr in Deutschland etwa 50000 Kinder in den ersten fünf Lebensjahren daran. Bei etwa der Hälfte ist sogar ein Krankenhausaufenthalt nötig, doch lebensbedrohlich ist die Erkrankung im Allgemeinen nicht. Ich persönlich würde meinem Kind diese Erfahrung ersparen wollen, aber das können manche Eltern anders sehen.
Was ist mit der Windpocken-Impfung? Die ist umstritten.
Die Windpocken sind nicht ganz so harmlos, wie sie manchmal dargestellt werden. Natürlich heilen die allermeisten Windpockenfälle ohne Komplikationen aus, aber es gibt auch komplizierte Verläufe, vor allem bei Kindern mit Neurodermitis oder einer Schädigung des Immunsystems. Hoch gefährdet sind auch Kinder, die etwa Leukämie haben sowie Schwangere und Säuglinge. Es gibt sogar, wenn auch selten, Todesfälle durch Windpocken. Aus allen diesen Gründen hat die Stiko die Impfung empfohlen. Es ist aber theoretisch denkbar, dass das mit zwei negativen Effekten verbunden sein könnte. Zum einen mit einer Verschiebung des Erkrankungsalters in höhere Altersgruppen. Das Problem dabei ist, dass die Windpocken in höherem Alter oft komplikationsreicher verlaufen. Und das zweite Problem, das theoretisch zu befürchten sein könnte, ist eine Zunahme von Gürtelrosenerkrankungen der älteren Bevölkerung. In den USA wird schon länger gegen Windpocken geimpft. Dort sind diese denkbaren Probleme bisher nicht aufgetreten. Und das Beste, was wir dagegen tun können, ist, möglichst viele Kinder zu impfen, damit auch der Rest der Bevölkerung sich nicht mehr anstecken kann.
Die Stiko hat sich in den vergangenen Jahren in hohem Maße der Eliminierung von Masern gewidmet. Wie realistisch ist es, dass Sie das bis Ende 2015 geschafft haben?
Eliminiert heißt, dass es keine einheimischen Masern mehr geben soll. Das haben wir eigentlich schon 2004 erreicht. Seitdem sind die Masernausbrüche auf Importe zurückzuführen. Bis 2004 war Deutschland Vizeweltmeister im Masernexport, jetzt sind wir ein Masernimportland. Eliminierung hat aber noch eine zweite Definition: Weniger als ein Erkrankungsfall pro eine Million Einwohner – und davon sind wir noch weit entfernt.
Warum?
Das hängt mit großen Impflücken zusammen. Die gibt es weniger bei kleinen Kindern als bei älteren Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Aber wir sehen auch mit Sorge, dass Kinder zu spät geimpft werden. Eltern lassen sie zwar impfen, aber nicht im zweiten Lebensjahr, wie die Stiko empfiehlt, sondern erst im dritten oder vierten. Besonders gefährlich ist es, wenn sehr kleine Kinder an Masern erkranken. Sie werden in der Regel von Ungeimpften angesteckt und können noch Jahre später an schweren Komplikationen sterben. Sehr selten, in etwa zehn bis zwanzig Fällen von 100000 Masernerkrankungen, kann sechs bis acht Jahre später eine sogenannte SSPE, die subakute sklerosierende Panenzephalitis, auftreten. Die SSPE ist durch eine unaufhaltsame und schleichende Zerstörung der Zellen des Gehirns gekennzeichnet und führt zum Tod. Der einzige verlässliche Schutz vor Masern ist die Herdenimmunität. Dafür müssten 95 Prozent der Bevölkerung geimpft sein.
Weitere Infos unter: http://www.impfen-info.de/