Sozialistische Kollektivsiedlung am See Genezareth Ein Besuch im Kibbuz – der Keimzelle des Staates Israel

Von Daniel Batel | 27.08.2022, 10:00 Uhr

In den 1970er-Jahren zog es viele junge Westeuropäer als Freiwillige in den Kibbuz nach Israel. Heute ist von den sozialistischen Siedlungen nicht mehr viel übrig. Doch ihre wechselvolle Geschichte fasziniert.

Die Gittertür quietscht, während sie den Weg zu einer Treppe freigibt, die drei Meter unter die Erde führt. Hier, sagt ein Mann mit kahlrasiertem Kopf, habe er bange Momente seiner Kindheit verbracht. In einem Bunker, dessen Eingang zwischen bunten Blumen wie ein Fremdkörper wirkt. Bis zu 50 Schutzsuchende sollen einmal in die enge, feuchte Röhre hineingepasst haben.

Moshe Shpitzer will nicht mit nach unten kommen, er lässt die Reisegruppe alleine hinabsteigen. Seine Erinnerungen an den Sechstagekrieg 1967 wühlen ihn bis heute auf. Damals kämpften israelische und syrische Truppen am See Genezareth gegeneinander. Dem israelischen Militär gelang es, die Golanhöhen am gegenüberliegenden Ufer zu besetzen. Damit erlangte der Kibbuz im Ort Ginossar endlich Sicherheit. Shpitzer war damals 13 Jahre alt.

Dieser Kibbuz, der früher eine genossenschaftliche Kollektivsiedlung gleichberechtigter Mitglieder war, ist inzwischen ein Hotel. Shpitzer führt heute Touristen über das Gelände und erzählt ihnen Anekdoten aus jener Zeit, in der die Kibbuzniks in Ginossar nichts Eigenes besaßen – und auch nicht danach strebten. Die Bewohner lebten in einer klassenlosen Utopie.

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Anfang des 20. Jahrhunderts lebten die meisten Juden in der Diaspora, vor allem in Gebieten des heutigen Russlands und der Ukraine, von wo aus viele vor Pogromen flohen. Durch den Zionismus zog es sie zu Tausenden nach Palästina, wo seit jeher eine jüdische Minderheit lebte. Die Immigranten wurden zu Pionieren des Aufbaus eines jüdischen Arbeiterstaates. Ihre sozialistische Prägung fand sich unverkennbar in den Kibbuzim* wieder.

*Mehrzahl von Kibbuz auf hebräisch

Feuchte Sümpfe und trockene Wüsten

Vor der Ausrufung des Staates Israel 1948 erfüllten die Kibbuzim eine bestimmte Funktion: Sie kennzeichneten die Außengrenzen des Landes, das zionistische Strategen einst palästinensischen Stammesvätern abgekauft hatten. In den Kolonien sollte Landwirtschaft betrieben werden, mit dem Ziel, die jüdische Bevölkerung in Palästina unabhängig zu machen.

Die meisten Flächen waren zu diesem Zweck vielerorts völlig ungeeignet. Die Siedler fanden entweder feuchte Sümpfe oder trockene Wüsten vor, die mühevoll für den Aufbau von Plantagen hergerichtet werden mussten.

In Ginossar bezeugen das heute tausende Bananenstauden, die sich auf mehreren Hektar aneinanderreihen. Die Pflanzen sind nach wie vor der große Stolz der Kibbuzniks. Shpitzer führt eine Reisegruppe durch die schwülwarmen Gänge zwischen den gigantischen Blättern. „Wer möchte eine Banane probieren?“, fragt er und sammelt eine Frucht vom Boden auf. „Diese hier können wir essen, die ist schon reif.“

Auch die Werte trugen Früchte

Der gelebte Sozialismus zog in den 1970er- und 80er-Jahren junge Freiwillige aus Westeuropa an, die als Volontäre bei der Ernte halfen. Sie wurden gezielt angeworben, als die Plantagen nicht mehr allein von den Bewohnern bestellt werden konnten. Dieselbe Strahlkraft, wie sie die Kibbuzim nach außen hatten, hatten sie in dieser Phase auch nach innen. Die Comicfigur „Srulik“, mit Khaki-Hosen und Hut dem Erscheinungsbild eines Kibbuzniks entlehnt, galt für die israelische Gesellschaft lange als Musterfigur: Ein Israeli sollte freundlich, fleißig und sozialistisch sein.

Willy Brandt im Kibbuz Ginossar

Den Stellenwert der Kibbuzim unterstrich auch Willy Brandts Besuch in Ginossar während seiner Staatsreise nach Israel im Juni 1973, der ersten eines amtierenden deutschen Bundeskanzlers. Zunächst traf sich Brandt mit Ministerpräsidentin Golda Meir, um über den schwelenden Nahost-Konflikt zu sprechen. Danach reiste er, auf Einladung von Vizepremier Jigal Allon, der in dem Kibbuz aufgewachsen war, weiter nach Ginossar.

Ein Jahr zuvor hatte Allon der Bonner Regierung im Zuge der Freilassung der palästinensischen Olympia-Attentäter von München noch einen „Akt der Feigheit“ vorgeworfen. Im Kibbuz hingegen umarmte er Brandt wie einen alten Freund. In Ginossar verbrachte der Kanzler vergleichsweise entspannte Tage und fuhr zum Angeln auf den See Genezareth – aus dem die Kibbuzniks dreizehn Jahre später das sogenannte „Jesus-Boot“ fischten, ein 2000 Jahre altes Wrack aus der vermuteten Lebenszeit Jesus von Nazareths.

Brandts Besuch war für die Kibbuzbewohner ein bedeutsamer Moment. Im Archiv der Siedlung, einer unscheinbaren Baracke, muss Shpitzer nicht lange nach einem Foto suchen. Er zieht ein Schwarzweißbild aus einem Ordner und hält die Aufnahme lächelnd in die Kamera. „Schade, dass ich nicht selbst mit ihm reden konnte“, sagt er wehmütig. Dass der Staatsbesuch Jahrzehnte später als Fehlschlag gewertet wurde, weil es Brandt misslang, den Jom-Kippur-Krieg zu verhindern, ist für ihn höchstens eine Randnotiz.

Neben Allon brachten die Kibbuzim weitere Staatsmänner hervor. Verteidigungsminister Moshe Dajan (1967 bis 1974) wuchs im Ur-Kibbuz Degania Alef auf, Präsident Shimon Peres (2007 bis 2014) verbrachte seine Jugend im Kibbuz Ben Shemen. Sie waren durch die Kinderhäuser geprägt, die den Nachwuchs zu großer Selbstständigkeit und Führungsstärke erzogen.

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Der bis heute landesweit verehrte Staatsgründer und erste israelische Ministerpräsident David Ben Gurion schloss sich nach Erfüllung seiner politischen Mission als betagter Mann noch dem Kibbuz Sde Boker in der Negev-Wüste an. Es war die goldene Ära der Kibbuzim.

Niedergang und Privatisierung

Das alles ist inzwischen lange her. Die meisten Siedlungen gerieten Ende der 80er-Jahre in finanzielle Schieflage: durch Misswirtschaft, gekürzte staatliche Subventionen und eine schwere Inflationswelle. Viele Siedlungen wurden in der Folge privatisiert. In Ginossar erhalten die Bewohner zwar heute noch eine stattliche Rente, weitere Zahlungen aus der alten Gemeinschaftskasse gibt es aber nicht mehr.

Der ehemalige Essenssaal dient heute einem Hotel als Restaurant. Der Anblick der langen Schlange vor dem Buffet erinnert an jene Zeiten, in denen hungrige Erntehelfer nach einer langen Schicht dort anstanden, um sich zu stärken und den Abend gemeinsam ausklingen zu lassen. Für diese Bilder muss im Kibbuz Ginossar jedoch die Fantasie genügen – das Gelände ist inzwischen nicht viel mehr als eine hübsche Fassade der eigenen Vergangenheit.

Einige wenige Siedlungen schafften es hingegen, ihren Kern zu bewahren. Die sogenannten „Kibbuzim shitufi“ sind weiterhin ein geschlossenes System, in dem Mitglieder ein Einheitsgehalt beziehen und auf dem Areal leben. Mit Landwirtschaft allein ist das aber längst nicht mehr zu finanzieren. Der Kibbuz Tzuba etwa, in einem Vorort von Jerusalem gelegen, produziert inzwischen industrielles Spezialglas und betreibt ein eigenes Weingut. Es gibt noch Sozialismus nach innen – nach außen aber herrscht Kapitalismus.

Holocaust und Kibbuzhistorie untrennbar verbunden

Shpitzer sieht den Wandel entspannt. Der Kibbuz in Ginossar sei schließlich wie geschaffen für den Tourismus. Aber auf dem Areal ist längst nicht alles bunt und heiter. Das Grauen der Schoa schwebt ebenso über dem Gelände. Der 68-Jährige führt eine Gruppe an ein Stück Bahngleis, das effektvoll am Seeufer liegt und auf einen großen Davidstern zuläuft. Die Gedenkstätte erinnert an jene Verwandten der Kibbuzbewohner, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Shpitzer, dessen Vorfahren aus Ungarn stammen, verlor bis auf seine Mutter alle seine Angehörigen.

Weder der Verlust noch seine eigenen Erfahrungen mit Gewalt während des Sechstagekriegs haben bei Shpitzer Hass entstehen lassen. Den Konflikt mit den Palästinensern und anderen arabischen Staaten bringt er auf die simple Formel: „Egal woher jemand kommt, es sind alles Menschen.“ In Ginossar betont diese Haltung das Jigal Allon Museum. Darin werden Exponate der gemeinsamen Historie von Arabern und Juden am See Genezareth ausgestellt und Treffen zwischen arabischen und jüdischen Jugendlichen organisiert. Die Türen zum Museum öffnet Shpitzer lieber als die alte Pforte des Bunkers.

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