Übergriffe passieren täglich, fast jede siebte Frau in Deutschland ist davon betroffen. Doch wie schreibt man ein Drehbuch, das sich mit einem dieser Fälle auseinandersetzt?
Während einer Feier vergewaltigt ein Vater die beste Freundin seiner Tochter. Oder doch nicht? Diese Handlung entspinnt sich in einer Familie in der Serie „37 Sekunden“. Autorin Julia Penner hat das Drehbuch zusammen mit Co-Autor David Sanddreuther geschrieben. Im Interview berichtet sie von eigenen Erfahrungen, ihrem Anspruch an die Serie und der Distanz, die sie für ein solches Drehbuch gebraucht hat.
Frau Penner, wie stellt man eine Vergewaltigung im Film dar?
Darauf gibt es keine allgemeine Antwort. Wir wollten den Übergriff in der ersten Folge passieren lassen, damit es keinen Raum für Interpretation gibt. Direkt sollte klar sein, was passiert ist. Es sollte zudem auch eine Szene sein, die kippt. In den 37 Sekunden zu Beginn der Serie entsteht eine leidenschaftliche Liebesszene, die zu einer Trennungsszene wird – und plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. Die Szene greift auf, dass Sex nicht eindeutig ist. Unser ganzes Leben ist geprägt von Widersprüchen und es ist schwer, in intimen Beziehungen Grenzen zu ziehen.

Wie schreibt man darüber dann ein Drehbuch?
Meinem Co-Autoren David Sandreuter und mir war immer klar, dass eine Liebesszene entstehen sollte, die kippt. Wir haben viel diskutiert. Das hatte auch absurde Momente. Man trifft sich morgens um um elf Uhr zusammen während der Pandemie via Zoom, um eine solche Szene zu entwerfen. Aber ich glaube, es war sehr gut, dass wir zu zweit waren.
Julia Penner wurde in Wuppertal geboren, absolvierte ihr Schauspielstudium an der renommierten Ernst-Busch-Schule. Danach arbeitete sie zuerst am Stadttheater Konstanz, wurde schließlich am Schauspielhaus Frankfurt zum festen Ensemblemitglied. Seit 2012 ist sie als Autorin, Regisseurin und Theaterpädagogin tätig, studierte bis 2016 in Berlin das Drehbuchschreiben und schrieb im Anschluss preisgekrönte Drehbücher für Serien, Filme und Theaterstücke.
Staffel drei bis fünf der Jugendserie „Druck“, der Fernsehfilm „Meine Freundin Volker“ und die Serie „37 Sekunden“ gehören zu ihren größeren Projekten.
Haben Sie auch persönliche Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen gemacht?
Ja, die habe ich selber auch gemacht. Das war auch der Grund, warum ich die Serie entwickelt habe. 2016 in meinem Studium haben mir meine Dozenten gesagt, dass die Fragestellung, ab wann aus Sex eine Vergewaltigung wird vermutlich nicht für eine Serie reichen wird. Und dann, ein halbes Jahr später, ist die Metoo-Bewegung entstanden. Das hat einiges verändert.
War die Auseinandersetzung damit schwer?
Die Recherche, in der wir mit vielen Anwälten gesprochen und uns Fälle angeschaut haben, war schwer. Wir sind von einer Anwältin, Antje Brandes, dauerhaft begleitet worden und ich weiß noch, dass sie einen vierten Fall vorgestellt hat, der so krass und ungerecht war, das er mich nachhaltig beschäftigt hat. Und mich zeitweise auch wütend gemacht hat beim Schreiben.
Zusammengefasst war das Projekt nicht ohne. Was geholfen hat, war Humor, um sich zu distanzieren.
Wie wählen Sie aus, welche Geschichten Sie in dem Drehbuch erzählen wollen?
Es kommt drauf an, ob es mich emotional packt. Das kann eine Figur, ein Moment oder eine Idee sein. Irgendetwas was mich hineinzieht. Das fühlt sich immer an, als würde man klettern, ich muss mich also irgendwo festhalten können, damit ich nicht herunterfalle. Die Entwicklung von Drehbüchern, von der Idee bis zur fertigen Serie beziehungsweise zum fertigen Film dauert häufig Jahre. Es ist ein Marathon. Daher braucht man etwas, was einen bei der Stange bleiben lässt.

Damit Zuschauer auch für Distanz sorgen können, wird oftmals eine Triggerwarnung eingeblendet. Warum in dieser Serie nicht?
Ich kann den Punkt verstehen, dass es das braucht. Andererseits ist es schwer, das allgemein zu beantworten, schließlich schalten Menschen zu verschiedenen Zeiten ein und informieren sich individuell darüber, was sie einschalten. Was ich besser finde, ist am Ende eine Einblendung von Nummern, bei denen man sich melden kann, wenn man sich getriggert fühlt.
Auch die Perspektive des Schuldigen wird abgedeckt
Es wird auch die Perspektive des Familienvaters und Vergewaltigers eingebunden. Braucht es diese Perspektive auf die Handlung?
Definitiv. Wir fanden es wichtig, auch die Positionen ernst zu nehmen, die einem nicht angenehm sind.
Ich halte den Schluss dieser Serie für sehr progressiv und dafür braucht es diese Perspektive. Wir sind meiner Meinung nach inzwischen in der Metoo-Diskussion an einem Punkt, an dem es nicht mehr heißt, Männer sollen schweigen und Frauen ihre Stimmen erheben. Das ist zu einfach und verschiebt die Verantwortung in Richtung der Frauen beziehungsweise Opfer. Inzwischen fände ich es gut, wenn Männer und Frauen miteinander ins Gespräch kommen.

Die Serie spielt in einer Familie; einige Mitglieder verdrängen die Tat jedoch – andere glauben dem Vergewaltiger. Wieso gibt es diese zweifelnden Charaktere?
Weil es tatsächlich so stattfindet. Ein Hauptteil der Übergriffe finden im Bekannten- oder Freundeskreis statt, davon wird zudem nur ein geringer Prozentsatz angezeigt. Warum ist das so? Wir haben in der Serie das System Familie in Frage stellen wollen. Sind Menschen dazu bereit, ihren Eltern eine solche Tat zuzutrauen? Offensichtlich nicht. Deswegen wollten wir so realitätsnah und nachvollziehbar wie möglich erzählen. Unsere Anwältin hat uns gesagt, dass es wirklich so ist, dass Familienmitglieder solche Fälle nicht glauben können – außer, sie sehen es wirklich mit eigenen Augen vor sich. Die Strukturen sind voll von Machtverstößen und ich würde mir wünschen, dass wir diese hinterfragen und vielleicht anders gestalten.
Neben Metoo-Geschichten ein zweiter Fokus
Sie haben in Ihren Drehbüchern auch eine Neigung zu politischen LGBTQI-Themen. Finden Drehbücher dazu inzwischen mehr Anklang? Ändert sich aktuell etwas?
Ja, ich glaube schon. Ich weiß natürlich nicht, wie das vor 15 Jahren war, aber Ich habe auch die dritte Staffel der funk-Produktion „Druck“ als Headautorin betreut, in der es einen trans Charakter als Love Interest (Liebesobjekt; Anm. der Redaktion) gibt. Da gab es zu Beginn viel mehr Gegenwind von der Redaktion, das wäre heute nicht mehr so. Und wir sprechen von 2018.
Wie sah dieser Gegenwind aus?
Fragen standen im Raum, ob man sich mit der Figur verbinden und die Thematik verstehen kann. Und es zeigt sich jetzt, während ich einen anderen Film namens „Meine Freundin Volker“ mit meinem Co-Autoren Andreas Wrosch über eine Dragqueen geschrieben habe, dass das Feedback sehr positiv war. Auch von Menschen, die mit diesen Themen vorher wenig Berührungspunkte hatten, aber auch von der Community. Das hat uns sehr gefreut.
Und dennoch scheinen LGBTQI-Themen weniger präsent zu sein als bei Netflix, wo es in jeder Serie mindestens einen queeren oder trans Charakter gibt, womit ganz viel Aufklärungsarbeit stattfindet. Warum ist das so?
Ich habe die Zahlen nicht parat. Aber ja, Deutschland gehört vielleicht nicht zu den progressivsten Fernsehnationen, schätze ich. Es ändert sich etwas, aber langsamer. Und ich glaube auch, dass insgesamt Corona und der Krieg in der Ukraine dazu geführt haben, dass alle wieder etwas konservativer werden. Wir in Deutschland müssen uns mit Gesellschaftsspaltung auseinandersetzen und es ist schwer, das zu vereinen.
Haben die öffentlich-rechtlichen Sender eine Vorbildfunktion, die sie anders als Netflix weniger konsequent verfolgen?
Ich glaube nicht, dass Netflix über irgendeine Form von Vorbildfunktion nachdenkt. Die öffentlichen rechtlichen Sender wahrscheinlich schon. Ich glaube, dass sie versuchen, für alle Inhalte anzubieten, denke aber auch, dass wir das Publikum teilweise unterschätzen.
Was sollte der Anspruch von Filmen und Serien sein, die sich mit queeren Themen befassen?
Filme und Serien dürfen auch mal unterhalten. Ich will niemanden mit meinen Geschichten erziehen. Dafür halte ich die Menschen für zu selbstständig. Für mich ist ausschlaggebend, mich mit Respekt den Charakteren und Geschichten zu nähern.
Sie waren Autorin bei drei Staffeln der Jugendserie „Druck“. Inwiefern spielen Themen wie Sexualität und Identität bei Jugendlichen eine größere Rolle?
Als wir recherchiert haben, haben wir auch viele Schulen besucht. Einmal waren wir an einer Schule, in der ein fünfzehnjähriges Mädchen meinte, sie weiß noch nicht, ob sie auf Jungs oder Mädchen steht. Das war überhaupt kein Problem für ihre Mitschüler und glaube, in meiner Schulzeit in den 90ern wäre das anders gewesen.
Wie recherchieren Sie für Serien, um die Handlung authentisch – und wie bei „Druck“ – der Zielgruppe entsprechend zu erzählen?
Für „Druck“ haben wir viel mit den Schauspielern gesprochen, Videos auf Tiktok geschaut und zu dem Sprachgebrauch von Jugendlichen recherchiert. Vor allem zählt immer, die Charaktere ernst zu nehmen. Man sollte nicht versuchen, da eine Pseudojugendlichkeit reinzubringen. In Staffel drei sind zum Beispiel zwei Jungen Protagonisten. Da ist mir aufgefallen, dass Jungs deutlich weniger reden und viele Dialoge nur aus „Na?“ bestanden. Viel wortkarger.
Für „37 Sekunden“ haben wir in Dänemark recherchiert, dort sollte die Serie ursprünglich spielen. Wir waren in sogenannten Rape Stations, in die man nach einem Übergriff gehen kann, damit Beweise gesichert werden. Auch in Deutschland waren wir in einer solchen Klinik, um die Beweissicherung als sensiblen Moment so gut und respektvoll wie möglich zu erzählen.

Das hängt auch an einem System. Haben Sie gemerkt, dass sich in öffentlich-rechtlichen Produktionen etwas verschiebt?
Ja, bei 37 Sekunden hatten wir viel Freiheit und Vertrauensvorschuss, zu tun, was wir wollen. Das lag vielleicht auch daran, dass wir keine besonders teure Produktion waren. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass ich als Frau nicht ernstgenommen werde oder so. Was ich manchmal schade fand, war der Hinweis, das sei eine Frauenserie. Denn genau das soll es nicht sein – das ist eine Serie für die gesamte Gesellschaft und ich hoffe, dass alle einschalten werden. Denn in der Metoo-Debatte steckt nicht nur die Frage, wie wir nicht miteinander schlafen wollen, sondern auch, wie wir überhaupt miteinander schlafen wollen. Wie wollen wir Intimität gestalten? Wie wollen wir 2023 einander lieben?
Die Serie „37 Sekunden“ ist ab dem 4. August in der ARD Mediathek verfügbar, am 15. und 22. August laufen jeweils drei Folgen im Ersten.