Fall Till Lindemann Wenn die Kritik von links kommt: Verlage lassen sich zu sehr von öffentlicher Meinung bestimmen

Eine Kolumne von Thomas Ribi | 16.06.2023, 15:09 Uhr 5 Leserkommentare

Schuldig oder nicht schuldig? Till Lindemann, Monika Maron, Hans-Georg Maaßen: Werden Vorwürfe laut, lassen Verlage ihre Autoren fallen. Die Verleger lassen sich von der öffentlichen Meinung bestimmen.

Till Lindemann ist unschuldig. Jedenfalls so lange, wie die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht erhärtet sind. Man mag dem Rammstein-Frontmann einiges zutrauen, doch Anschuldigungen sind keine Fakten. Für den Verlag Kiepenheuer & Witsch (KiWi) allerdings schon. Vor einigen Tagen hat er bekanntgegeben, dass er die Zusammenarbeit mit Lindemann beendet. Lindemann habe im Umgang mit Frauen „unverrückbare Grenzen“ überschritten, begründete Verlagsleiterin Kerstin Gleba in einer Medienmitteilung die Entscheidung. Das Vertrauensverhältnis sei „unheilbar erschüttert“.

Sexuelle Phantasien über gefügige Frauen

Zwei Gedichtbände hat Lindemann bei Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht. Was er darin zum Besten gibt, lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Sexuelle Phantasien über gefügige Frauen inklusive. Das Gedicht „Wenn du schläfst“ zum Beispiel, eine niederträchtige Phantasie über den Koitus mit einer Frau, die mit einem Schlafmittel in den Zustand versetzt wird, in dem das sprechende Ich am liebsten mit ihr verkehrt.

Es liest sich wie eine Vorausnahme dessen, was dem Autor heute vorgeworfen wird: Sexualdelikte und Abgabe von Betäubungsmitteln an junge Frauen. In Lindemanns Lyrik klingt das so: „Ich schlafe gerne mit dir wenn du schläfst / Wenn du dich überhaupt nicht regst / [. . .] Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas) / Kannst dich gar nicht mehr bewegen / Und du schläfst / Es ist ein Segen.“

Ein bisschen Belehrung

Man kann das Gedicht großartig finden. Man kann es auch widerlich finden. Kiepenheuer & Witsch war das bei der Publikation egal. Ist schließlich Literatur. Der Verlag nahm „Wenn du schläfst“ sogar ausdrücklich gegen Kritik in Schutz. In einer Stellungnahme hielt der Verleger Helge Malchow 2020 fest, wer sich moralisch über das Gedicht empöre, verwechsle das Ich des Gedichts mit dem Autor Till Lindemann.

Die Differenzierung zwischen lyrischem Ich und Autor, so der Verlag, sei konstitutiv für jede Lektüre von Lyrik. Das war richtig belehrend, Literaturtheorie für Dummies. Aber natürlich nicht ganz falsch und immerhin so etwas wie ein Einstehen für die Freiheit der Kunst. Lindemann war schließlich ein Star. Mit seinen Büchern ließ sich gutes Geld verdienen.

Vorwürfe gegen Till Lindemann

Rammstein-Skandal: Lisa Paus, YouTube und Böhmermann

Meinung – Daniel Benedict
Jetzt schaltet sich Lisa Paus ein. Im Skandal um Rammstein-Sänger Till Lindemann schlägt die Familienministerin Schutzbereiche für Rockkonzerte vor und empfiehlt der Branche „Awareness-Teams“; Ansprechpartner, bei denen man Übergriffe meldet. Schaden kann es nicht. Vor allem klingt es aber nach einem Standardrezept, das Handlungsfähigkeit demonstrieren soll – in einer juristisch heiklen Debatte, die klare Antworten noch kaum zulässt. Und die sich gerade vollends verselbständigt hat.

Die klassischen Medien behandeln den Fall dabei immerhin als das, was er ist: ein Verdacht. Sie schreiben im Konjunktiv, sprechen nicht von Taten, sondern von Vorwürfen, und lassen die Band mit ihrem Widerspruch zu Wort kommen. So macht es auch die Süddeutsche Zeitung, die mit einigen der mutmaßlichen (!) Opfer gesprochen und die Geschichte so ins Rollen gebracht hatte.

Eine Million Zugriffe: YouTuberin mit Rammstein-Anklage

Eine andere junge Frau hat ihren Erfahrungsbericht aus Rammsteins Backstage-Welt jetzt selbst bei YouTube eingestellt. Der journalistische Filter fehlt und mit ihm die Unschuldsvermutung. Dabei spricht die 21-Jährige nicht nur aus ihrer eigenen Erfahrung über Till Lindemann. Sie verließ die Situation, bevor es zu einem Übergriff gekommen wäre. Schlimmere Anschuldigungen schildert sie deshalb vom Hörensagen.

Über Nacht ist die 21-Jährige damit zu einer dominanten Stimme geworden. 750.000 Nutzer folgen der YouTuberin. Zum Vergleich: Die Süddeutsche hat eine Auflage von rund 300.000 Exemplaren. Es dauerte denn auch keine 24 Stunden, bis das Video der Augenzeugin über eine Million Mal abgerufen wurde – sicher auch deshalb, weil der Satiriker Jan Böhmermann es auf Twitter geteilt hat. Mit dem Hinweis: „Was wirklich bei Rammstein Afterpartys passiert“.

Das Urteil der Mehrheit schützt keine Minderheiten

Was wirklich passiert ist, wissen nur die Beteiligten. Ob und was davon strafbar war, wäre dann auf dem Rechtsweg zu klären. Zum Glück. Die Öffentlichkeit spricht keine guten Urteile. Das sollte gerade den Menschen klar sein, die sich jetzt für die gute Sache empören: den Kampf gegen Sexismus. Schutz von Minderheiten erreicht man zuallerletzt, indem man die Mehrheit aus dem Bauch heraus entscheiden lässt.
Zum Kommentar

Heute sieht alles anders aus. Lindemann ist in Ungnade gefallen, die öffentliche Meinung über ihn ist gemacht, der Verlag sieht sich unter Druck. Also schwenkt man um. Der Verlag muss sich allerdings winden, um die Abkehr von seinem Autor plausibel erscheinen zu lassen. Als Grund für die Trennung wird ein von Lindemann gedrehtes Pornovideo genannt, das sexuelle Gewalt gegen Frauen zelebriert und in dem der Gedichtband „In stillen Nächten“ eine Rolle spielt. Das sei ein Vertrauensbruch, ein „rücksichtsloser Akt gegenüber den von uns als Verlag vertretenen Werten“.

Moralische Empörung von Links

Dass die moralische Empörung über das Pornovideo im gleichen literaturtheoretischen Irrtum befangen sein könnte wie die Entrüstung über Lindemanns Gedichte, kommt den Verlegern nicht in den Sinn. Die pornografischen Gedichte sind auf einmal nicht mehr Kunst, sondern nur noch Pornografie. Und dass Lindemanns Video „Till the End“ schon seit zwei Jahren im Netz kursiert, spielt keine Rolle. Als fadenscheinige Ausrede, um einen zur Hypothek gewordenen Autor loszuwerden, taugt es allemal.

Man kann sich fragen, was erschütternder ist: das Verhältnis von KiWi zu Till Lindemann oder die Politik eines Verlags, der seine Entscheidungen nicht selbständig trifft, sondern die Fahne in den Wind hängt und sich von der öffentlichen Meinung leiten lässt. Damit ist Kiepenheuer & Witsch nicht allein. Sich von Autoren zu distanzieren, sobald Kritik gegen sie geäußert wird, ist bei deutschen Verlagen zu einem Reflex geworden. Vor allem dann, wenn die Kritik von links kommt und sich gegen Meinungen richtet, die als rechts gelten.

2018 distanzierte sich Suhrkamp von Uwe Tellkamp, nachdem dieser die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung kritisiert hatte. Tellkamp vertrat Positionen, die zum Teil auch von der AfD geteilt werden. Das ist sein gutes Recht. Aber der Verlag fand es zu heikel. Es passte schlecht zur linkszeitgeistigen Suhrkamp-Kultur. Also besser abgrenzen, auch wenn man mit Tellkamps Roman „Der Turm“ einen Riesenerfolg eingefahren hatte: knapp eine Million verkaufte Exemplare.

Zu nahe an der AfD

Zwei Jahre später kündigte S. Fischer an, keine Bücher von Monika Maron mehr zu publizieren. Marons „Vergehen“: Sie hatte eine Auswahl ihrer Texte im Verlag des Buchhauses Loschwitz publiziert. Die Dresdner Buchhandlung gilt als AfD-nahe, ihre Leiterin Susanne Dagen hatte in einem offenen Brief an den Börsenverein des deutschen Buchhandels dessen respektlosen Umgang mit rechten Verlagen kritisiert.

Das war mehr, als die linksliberale Verlegerseele verträgt. Und als sich zeigte, dass die Bücher des Buchhauses Loschwitz durch den Verlag des rechten Verlegers Götz Kubitschek vertrieben werden, war der Fall für S. Fischer klar: Trennung. Dass man jahrzehntelang mit Monika Maron zusammengearbeitet hatte, spielte keine Rolle. Dass an ihren Büchern nichts auszusetzen war, auch nicht. Die Kontaktschuld reichte aus, um sie zu canceln.

Damit nicht genug. Im Januar dieses Jahres gab die juristische Abteilung des Verlags C. H. Beck bekannt, man wolle Hans-Georg Maaßen nicht mehr als Autor. Der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes war einst Repräsentant einer wertkonservativen CDU. Seit seiner Absetzung aus dem Amt hat er sich auf eine Weise radikalisiert, die ihn in die Nähe rechter Verschwörungstheoretiker rückt. Nur, an seiner Arbeit für C. H. Beck hatten nicht einmal seine Kritiker etwas zu beanstanden: Seit Jahren betreute er im maßgeblichen Kommentar zum Grundgesetz die Artikel zum Asylrecht. Anerkanntermaßen kompetent.

Der Druck der Straße

Doch wenn der Druck der Straße zunimmt, ist das kein Argument mehr. Ein prominenter Staatsrechtler beendete aus Protest gegen Maaßen seine Arbeit für den Kommentar. In der Öffentlichkeit wurde Maaßens Eignung als Kommentator des Grundgesetzes in Zweifel gezogen. C. H. Beck knickte ein. Und hatte die Chuzpe, den Rausschmiss Maaßens mit den Worten zu kommentieren, Rechtswissenschaft lebe vom Diskurs verschiedener Akteure mit unterschiedlichen Meinungen. Dafür wolle man ein Forum bieten und fühle sich deshalb zur Neutralität verpflichtet.

Das wäre ein Plädoyer dafür, dass Verlage mit Autoren wie Maaßen, Maron, Tellkamp oder Lindemann zusammenarbeiten, gerade wenn sie in der Öffentlichkeit unter Druck kommen. Und sie nicht gleich fallen zu lassen, wenn Vorwürfe gegen sie erhoben werden und, wie im Fall Rammstein, die Schuld nicht bewiesen ist. Aber wo die Angst regiert, hat die Vernunft einen schweren Stand. KiWi, Suhrkamp und C. H. Beck gehören zu den renommiertesten Verlagen Deutschlands. Publizistische Leuchttürme, die das intellektuelle Klima prägen. Dazu würde es gehören, sich dem Diskurs zu stellen. Haltung zu zeigen und publizistische Entscheide nicht von der öffentlichen Meinung abhängig zu machen. Aber das braucht halt Mut.

Dieser Text ist zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.

5 Kommentare
Michael Mittelhaus
Der Autor sollte sich einmaal bewußt machen, dass Verlage Wirtschaftsunternehmen sind. Die mit ihren Büchern Geld verdienen wollen. Die also einschätzen müssen, ob und wie bestimmte Autoren sich verkaufen lassen, um nichts anderes geht es. Ansonsten fällt auf, dass der Autor der rechtsgewendeten NZZ im wesentlichen Autoren aus dem Umkreis der AfD verteidigt. Das sollte zu denken geben. Auch in der...