Autor über US-Politik Buch-Autor John Irving: Warum Reagan schlimmer war als Trump – bis jetzt

Von Daniel Benedict | 04.08.2023, 06:00 Uhr 2 Leserkommentare

Der Schriftsteller John Irving lebt auf einer einsamen Insel. Im Interview erzählt er von seinem Ringen mit schwangeren Klapperschlangen – und erklärt, warum nicht Donald Trump, sondern Ronald Reagan der schlimmste US-Präsident war.

John Irvings Romane sind von einer zupackenden Sinnlichkeit. Zupacken kann der Schriftsteller und Ringer natürlich auch selbst. Zum Interview über wilde Tiere, Gespenster und den Kampf der radikalen Rechten gegen die Woke-Bewegung erscheint der 81-Jährige gute 15 Minuten zu spät – weil er auf einer kanadischen Insel voller Klapperschlangen noch ein paar Rohre zu reparieren hatte.

Mr Irving, schön, dass Sie es doch noch in unseren Zoom-Call geschafft haben. Ist was passiert?

Alles ist gut; ich bin hier auf einer Insel und hatte ein Problem mit den Rohren, um das ich mich kümmern muss. Aber jetzt bin ich da.

Sind Sie auf Ihrer eigenen Insel?

Die Insel gehört meiner Frau Janet; sie ist hier aufgewachsen. Ihr Großvater hat die Insel 1926 beim Pokern gewonnen. Es sind drei Stunden von Toronto und dann noch mal 15 Minuten mit dem Boot bis zu der Insel in der Georgian-Bay-Gegend im Lake Huron. Wir kommen jeden Sommer her. Ich muss öfter mal in die Stadt, habe hier aber einen Ort zum Arbeiten.

Klapperschlangen und Bären: Irvings Insel im Huronsee

Können Sie die Insel beschreiben? Wer lebt da? Und was für Tiere gibt es?

Die Insel ist nur ein paar Hektar groß. Wir sind die einzigen Bewohner und haben ein paar Blockhütten mit einer Küche, Schlafräumen und Gästezimmern. Etwas abseits davon steht eine Baracke, in der ich schreibe. Was wir oft sehen, sind Hirsche und Nerze, ab und an auch Bären. Die sehen wir fast nur vom Boot aus. Sobald wir anreisen, schwimmt der Bär angewidert auf die nächstgrößere Insel. Unsere ist für ein Miteinander zu klein.

Umso besser, wenn die Bären bereitwillig ausweichen.

Weniger angenehme Inselbewohner sind die Klapperschlangen. Meinen Enkeln bläuen wir immer ein: Raus mit den verdammten Kopfhörern und Augen auf den Boden. Hier gibt es viele Schlangen, auch Fuchsnattern. Die mögen wir, weil sie Klapperschlangen fressen. Selbst töten dürfen wir die Klapperschlangen nicht. In Kanada sind sie als bedroht eingestuft – wobei sie auf mich nicht besonders bedroht wirken. Um die großen Seen herum und auf den Inseln sind sie überall.

Wie nah kommen sie den Häusern?

Einmal war eine unter den Stufen zum Waschraum. Das war inakzeptabel; die mussten wir an einen anderen Ort verfrachten. Ein andermal hatte sich eine Klapperschlange die Türschwelle zu meiner Arbeitshütte ausgesucht. Jeden Morgen musste ich sie wegschubsen; ich hatte dafür extra einen langen Stock an die Hauswand gelehnt. Und nur ganz sanft geschubst; sie war schwanger.

Mehr Informationen:

John Irving wird am 2. März 1942 im US-Bundesstaat New Hampshire geboren. Schon während des Studiums – bei dem er in Wien auch Deutsch lernt – schreibt er seine ersten Romane. Den Durchbruch bringt „Garp und wie er die Welt sah“. 1978 veröffentlicht und vier Jahre später mit Robin Williams verfilmt, prägt der Roman Irvings Erzählkunst: Es geht um dominante Mütter und abwesende Väter, um Sonderlinge und queere Wahlverwandtschaften, um sexuelle Selbstbestimmung und die Angst vor dem Tod, der bei Irving meist in Form von drastischen Katastrophen eintritt. Irvings Bestseller werden regelmäßig verfilmt; für sein Drehbuch zu „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ wird er mit dem Oscar ausgezeichnet. Im Frühjahr ist sein 15. und dickster Roman erschienen: In „Der letzte Sessellift“ (Diogenes, 1088 Seiten, 36 Euro) begegnet ein Schriftsteller und Drehbuchautor den Geistern seiner Familie. 

John Irving über die Existenz von Geistern

Mr. Irving, in Ihrem neuen Buch „Der letzte Sessellift“ kommen auch Geister vor. Hatten Sie schon mal eine Begegnung mit einem Geist? Oder zumindest ein komisches Gefühl?

Ich bin weder religiös noch spirituell. Das Übernatürliche überzeugt mich nicht. Das mal vorweg. Geister kann ich mir nur als unerklärliche, unbegreifliche Wesen vorstellen. Ich habe nie etwas gesehen, das ich als Geist bezeichnen würde. Meine Tochter aber schon. Und auch andere Leute, denen ich vertraue, haben welche gesehen.

Wirklich?

Mit meiner Assistentin war ich zur Recherche bei der Historischen Gesellschaft von Aspen. Wir haben im alten Hotel Jerome geschlafen, das auch im Roman vorkommt, und ich habe absichtlich das Zimmer des einstigen Gründers Jerome B. Wheeler genommen. Wenn ich je einen Geist sehen würde, dann hier. Nichts ist passiert. Aber meine Assistentin, die zwei Etagen weiter oben schlief und eine dezidierte Skeptikerin ist – die hat einen Geist gesehen: den des Zimmermädchens. Ich nehme Menschen ernst, die so was berichten. Im Hotel Jerome sind so oft Geister beschrieben worden und das auf so ähnliche Weise, dass es mehr als ein Zufall sein muss.

Im neuen Roman schreiben Sie: „Der erste Tod einer geliebten Person verändert die Weise, wie die Zeit fließt.“ In meinem Fall war das die Großmutter. Mögen Sie sagen, wer es bei Ihnen war?

(John Irving spricht den ersten Satz auf Deutsch:) Auch meine Großmutter. Sie wurde 99 Jahre alt. Als ich aufwuchs, war sie unser bester Vorleser. Ihre Stimme gehört zu meinen ersten literarischen Einflüssen. Wenn ein Buch irgendwas taugt, hat sie gesagt, musst du es dir selbst so langsam vorlesen, wie ich es vorlese. Natürlich macht das keiner. Aber Audiobooks, die sie nicht mehr erlebt hat, hätte sie geliebt. Es dauert länger, eins zu hören, als selbst zu lesen. Aber wenn man ein guter Zuhörer ist, versteht man ein Buch besser über die Stimme. Besonders Ich-Erzählungen, weil der Erzähler dann auch eine Figur ist. Natürlich macht ein Ich-Erzähler die Geschichte auch länger – weil er immer erklären muss, warum er alles weiß. Mit einem allwissenden Erzähler wäre „Der letzte Sessellift“ 200 oder 300 Seiten kürzer.

Historische Verrisse machen John Irving Mut

Wie alt waren Sie, als Ihre Großmutter starb?

Ich war schon verheiratet und Vater und hatte meine ersten Bücher veröffentlicht. Es hat mir das Herz gebrochen, dass sie meinen offenen Umgang mit Sex – natürlich – abgelehnt hat. Am Ende ihres Lebens habe ich dann ihr im Altenheim vorgelesen. Sie fand, die Pflegerinnen konnten nicht lesen.

Die Großmutter in Ihrem Roman liest immer wieder „Moby Dick“.

Und genau das habe ich meiner Großmutter vorgelesen. Sie kannte das Buch so gut, dass sie nach bestimmten Kapitel verlangen konnte. Anders als die Großmutter im Buch hat sie mir „Moby Dick“ aber in meiner Kindheit nicht vorgelesen. Sie wollte, aber es war mir zu lang. Mit elf, zwölf Jahren war ich kein so guter Zuhörer wie meine Hauptfigur. Selbst gelesen habe ich es mit 17. Ich war begeistert und habe ihr gesagt: Du hattest recht.

Wenn ich einen Seefahrer-Roman lese, würde ich, ehrlich gesagt, auch immer zu Joseph Conrad statt zu Melville greifen.

Meinen Studenten habe ich immer gesagt: „Moby Dick“ sind zwei bis drei Romane von ein und demselben Autor. Oder eine große Sammlung von Geschichten. Die Reise der „Pequod“ ist eine Serie von Geschichten, eine über jeden von Ismaels Kameraden, über den Zimmermann, den zweiten Harpunisten, den ersten Maat. Jeden davon werden wir sterben sehen und jeder hat eine eigene Geschichte und eine eigene Funktion an Bord. Alles sind ziemlich gute Leute – in der Hand eines verrückten Kapitäns. Als Autor habe ich viel von Melville gelernt.

Was denn?

Nie wieder hatte ein so gutes Buch so schlechte Kritiken. Als Student habe ich sämtliche „Moby Dick“-Verrisse gelesen. Er hat keine einzige gute bekommen – mit Ausnahme der seines Kollegen D. H. Lawrence. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich das ermutigt. Wann immer ich verrissen werde, sage ich mir: Alles nicht halb so schlimm wie das, was sie über den armen Melville gesagt haben.

„Vielleicht bin ich also genauso gut wie er …“

Haha, nein, das habe ich nie gedacht.

Warum John Irving winzige Menschen liebt

Ihre Romane erzählen oft von kleingewachsenen, sogar von winzigen Leuten. Im aktuellen Buch haben einige Figuren eine richtige Obsession für Menschen, die schön klein sind. Lesern, die selbst klein sind, tut das gut. Warum lieben Sie kleine Menschen?

(Irving macht eine Denkpause von vollen acht Sekunden.) Das hat mich bis jetzt noch nie einer gefragt. Wenn ich ganz ehrlich sein soll: Ich weiß es nicht. Ich habe nie darüber nachgedacht, auch wenn ich sehe, dass Sie recht haben. Ich habe den Eindruck, dass Kleinsein für mich mit Beständigkeit verbunden ist. Meine kleinen oder kleineren Figuren sind aus sich heraus beständig. Ich bin ja selbst nicht groß. Ich bin der Kleinste in der Familie. Meine Frau, meine Kinder: alle sind größer als ich, das war schon immer so. Stellen wir uns mal das Gegenteil vor, dass ich auf unnatürlich große Menschen fixiert wäre … Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich Ringer bin.

Wieso denn am Ringen?

Als Ringer war ich ein Leichtgewicht, 62 Kilo. Ich war nicht der Kleinste, kein Federgewicht, aber klein. Aber wahrscheinlich hat es mit dem Ringen zu tun. Die kleinen Ringer haben ihren eigenen Platz auf der Matte. Wenn sie direkt neben den Großen wären, würden sie überrollt. Also werden Ringer nach der Größe aufgestellt. Als Teenager musste ich die Scham dabei überwinden. Man ist praktisch nackt. Manchmal ist man buchstäblich nackt, wenn man beim Wiegen alles auszieht, um das Gewicht zu halten. Auch da tritt man nach Größe an. Aber ich rate nur. Ich weiß es nicht.

John Irvings Credo: Angst ist Liebe

Wir hatten darüber gesprochen, wie der Tod eines Menschen den Blick auf die Zeit verändert. Was löst die Geburt des ersten Kindes aus? Hat das Ihr Schreiben beeinflusst?

Freilich! (Antwortet John Irving wieder mit einer deutschen Vokabel.) Bei der Geburt meines ersten Kindes war ich noch Student, aber auch schon Schriftsteller. Mit dem Kind hatte ich mein wahres Thema gefunden: Angst ist Liebe. Im Augenblick der Geburt fühlt man eine unumstößliche Liebe und begreift, dass man noch nie so viel Angst um jemanden hatte. Davon handeln meine Bücher: von der Angst, dass jemand stirbt, den man liebt. Irgendwann wird es passieren. In „Der letzte Sessellift“ spricht Molly – eine Figur, die nicht an Geister glaubt –, das aus, was ich selbst über den Verlust denke: „Wen wir lieben, der wird uns verlassen. Wir machen weiter. Ob es Geister gibt oder nicht – wir werden die Toten weiterhin sehen.“ In dem Roman, den ich gerade schreibe, habe ich das zur Kapitelüberschrift gemacht: Fear is Love. Angst ist Liebe.

Zensur: Texas verbannt Irving-Buch aus allen Büchereien

Ich mache einen Schnitt und komme vom Thema Tod zur Politik. In Florida gilt jetzt ein Gesetz, dass es LGTBQ-Themen im Schulunterricht verbietet. Werden ihre Bücher aus Schulbüchereien entfernt?

In Texas hat das Bundesparlament „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ zensiert – weil es von Abtreibung handelt. Abtreibung und alles, was mit LGTBQ zu tun hat, wird für Schüler zensiert. In Florida ist es am schlimmsten, was Schulbüchereien angeht, aber in Texas wurde mein Buch sogar aus allen öffentlichen Bibliotheken verbannt. Die Vereinigten Staaten waren nie vereinigt.

Sondern?

Es ist ein Land, das einen Bürgerkrieg erlebt hat. Als ich in New England aufwuchs, war mit klar, dass man hier ganz anders dachte als im Mittleren Westen oder in den Südstaaten. Die USA sind drei oder vier Länder. Früher fand man auch bei den Konservativen noch aufrichtige, anständige Menschen guten Willens. Im sozialen waren sie liberal, in der Finanzpolitik konservativ. Es gab mal Republikaner, die sich für Abtreibungsrechte eingesetzt haben. Das ist vorbei. In meiner Lebensspanne war die Polarisierung nie extremer.

Wie bewerten Sie die Lage?

Der Faschismus kommt wieder. Und das nicht nur in Person von Donald Trump. Gucken Sie, was in Europa passiert, wie der Faschismus auch dort wieder stark wird. Es ist furchteinflößend. Haben die Leute nichts von der Geschichte begriffen? Hört keiner das Echo?

Ihr Roman lässt erbittert Revue passieren, wie Ronald Reagan auf die Aids-Krise reagiert hat. Ist die Stimmungsmache gegen die queere Community wieder so schlimm wie in den 80ern?

Reagan hat sieben Jahre gebraucht, um Aids auch nur anzusprechen – während die Menschen starben. Es war egal, weil es schwule Menschen waren. Donald Trump muss noch sehr viel erfolgreicher sein als bisher, um so schrecklich wie Ronald Reagan zu werden. Wenn Trumps Karriere aus sein sollte, wird Reagan der schädlichere US-Präsident bleiben. Aber wir wissen ja nicht, ob es mit Trump vorbei ist. Auch wenn er aus vier oder fünf Gründen im Knast sitzen sollte.

Welche Hoffnung haben Sie für die Zukunft?

Wer meine Bücher liest, weiß, dass ich kein sehr hoffnungsvoller Mensch bin. Aber ich hoffe, dass Donald Trump und Floridas Gouverneur Ron DeSantis, sein innerparteilicher Gegner, sich im Vorwahlkampf ernsthaft schaden. Sie hassen einander, und das nicht nur aus Rivalität. Ich hoffe, dass ganz Amerika ihren Hass wahrnimmt. Es wird ihnen bei ihren Unterstützern zwar nicht schaden. Aber wenn sie einander so schrecklich aussehen lassen, wie sie wirklich sind, dann ermutigt das mehr Menschen, gegen sie zu wählen.

Irving: Es gibt etwas viel Schlimmeres als woken Bullshit

Sie sind doppelter Staatsbürger. Gibt es etwas, das Sie auf die US-Staatsbürgerschaft verzichten lassen würde?

Das wäre bestenfalls eine Geste, oder? Ich liebe das Land, in dem ich geboren wurde. Hier kenne ich mich aus. Auch wenn ich seit über 30 Jahren meine Sommer in Kanada verbringe – ich werde damit nie vertraut genug sein. Ich habe Kinder und Enkel in den Vereinigten Staaten; ich wünsche dem Land das Beste. Und vor allem: Ich will hier wählen. Leider muss ich in meinem früheren Wohnort Vermont wählen, wo die Demokraten sowieso stark sind.

Was fürchten Sie mehr: Trumps dunkles Charisma oder das Alter von Joe Biden?

Ich schreibe Romane und bin gut in der Rückschau. Ein Prophet bin ich nicht. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob Biden sein Alter oder die Wahrnehmung seines Alters bewältigt. Ich weiß auch nicht, wie viele verrücke Unterstützer die Republikaner wirklich haben. Sind sie noch eine Minderheit oder möchte man das nur glauben? Ich drücke Joe Biden die Daumen; er ist ein guter, anständiger Kerl. Und ich glaube, dass Ron DeSantis gefährlicher als Trump ist. Er hat dieselben bösartigen Ideen, ist aber doppelt so smart. Aber das alles fällt nicht in mein Fachgebiet.

Eine politische Frage, die in ihr Fachgebiet fällt: Die Rechte findet den Hauptfeind in der politischen Korrektheit, der „woken“ Bewegung. Macht man es Ultrakonservativen unnötig leicht, wenn man beispielsweise tabuisierte Begriffe aus Büchern rausredigiert – wie zuletzt im Fall von Roald Dahl?

Ich bin kein Fan der woken Bewegung. Vieles, was da verlangt wird, ist einfach nur Bullshit. Wokeness ist ein leichtes Ziel. Und Leute, die so bösartig wie rechte Republikaner sind, suchen nach leichten Ziele. Ich glaube also nicht, dass Wokeness der liberalen Sache hilft. Aber diese Debatte ist auch so ziemlich das einzige Gebiet, auf dem Rechte einen echten Anlass zur Klage haben. Also verbeißen sie sich in das Thema – als wäre es ein Problem, dessen Dimension es mit dem wachsenden Faschismus der Republikaner aufnehmen könnte. Vergleichen Sie „Wokeness“ mit der zunehmend antidemokratischen Agenda der Rechten: Hier geht es um intellektuell anstößigen Blödsinn, dort um etwas Schreckliches mit mörderischem Potenzial. Blicken wir auf das, was wirklich wichtig ist.

Neu von John Irving: „Der letzte Sessellift“, Diogenes, 1088 Seiten, 36 Euro.

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