Seit mehr als dreißig Jahren prägt Farin Urlaub mit seiner Band „Die Ärzte“ und auf Solopfaden die deutsche Musikbranche. Im Interview erzählt der Musiker von seinen Sprintqualitäten bei Angst, seinem ungetrübten Optimismus und warum er auf die Reife im Alter wartet.
Farin, der Kabarettist Horst Evers hat gesagt, jemand, der Berlin gut kennt, sollte der neue Bürgermeister der Hauptstadt werden, und hat Sie als Kandidaten vorgeschlagen. Haben Sie Lust, für das Amt zu kandidieren?
(lacht laut) Um Himmels willen. Horst Evers ist ein lustiger Kollege. Ich habe ihn vor Kurzem erst live gesehen und mag ihn sehr gerne. Deswegen traut er sich wahrscheinlich, so etwas zu sagen. Aber um Himmels willen! Politik – es gibt nichts, was mir ferner läge.
Näher scheint Ihnen eher der fiktive Tod zu liegen. Im Video zu Ihrer neuen Single „Herz? Verloren“ sterben Sie am Ende. Ich habe mitgezählt: Das ist inzwischen das neunte Mal. Was ist so schön am Video-Tod?
Ich habe keine Ahnung. Der Regisseur Norbert Heitker ist eigentlich ein guter Freund von mir. Aber irgendetwas hat er mit mir am Laufen. Er sagt es mir nicht ins Gesicht, aber er lässt es mich in seinen Videos spüren.
Und da wehren Sie sich nicht?
Ach nö. Wenn Norbert sagt, spring hier rein in die Batteriesäure, dann springe ich da rein. Er ist der Regisseur – ich muss machen, was er sagt.
In „Herz? Verloren“ singen Sie von Polyamorie. Sind Sie schon mal in zwei, drei Frauen gleichzeitig verliebt gewesen?
Ja. In meiner Pubertät sogar in noch viel mehr. Aber irgendwann hat sich dann das Dunkel in meinem Kopf gelichtet. Heute ist es nicht mehr ganz so schlimm.
Also passiert es manchmal noch?
Es ist mir schon vertraut, dass man irgendwie verliebt ist und sich dann noch verknallt.
Verlieren Männer wirklich leichter ihr Herz?
So behauptet es jedenfalls die Wissenschaft. Ich weiß nicht wirklich, wie man das messen soll. Die Probanden bekommen Bilder gezeigt, und es wird der Puls, die Pupillenerweiterung und die Leitfähigkeit der Haut gemessen. Dann behauptet die Wissenschaft: Ah, das ist ein Symptom für Verliebtsein. Wir Männer sind offenbar ziemlich stumpf.
Es gibt also einen wissenschaftlichen Beweis für die These Ihres Titels?
Selbstverständlich. Ich singe doch nicht einfach haltlos irgendwelchen Blödsinn (lacht).
Viele Ihrer Lieder sollen unterwegs entstehen. Wo sind die Lieder für das neue Album entstanden?
Ungefähr die Hälfte meiner Lieder entsteht auf Reisen. Wo genau die Lieder für mein neues Album entstanden sind, verrate ich aber nicht. Das wird dann zu privat. Dann weiß ja jeder, wo ich mich überall so herumgetrieben habe.
Verraten Sie wenigstens, wo die aktuelle Single entstanden ist?
„Herz? Verloren“ ist letzten Endes in Spanien entstanden. Aber die erste Zeile des Refrains fiel mir ein, als ich den Dschungel sah. Keine Ahnung, wo sie herkam. Ich habe mich nicht plötzlich in Bäume verliebt. Ich stieg aus einem Auto aus – ich weiß tatsächlich noch Jahre später, wann mir wo welche Zeilen eingefallen sind – und hatte auf einmal die Zeile im Kopf „Ich bin schon wieder dabei, mein Herz zu verlieren“, und dann dachte ich mir: Okay, merken!.
Und wie entwickeln Sie die Lieder weiter?
Manchmal reicht schon eine einzige Zeile, und dann ist der ganze Rest klar. Und manchmal dauert es doch ein paar Monate, bis sich ein Lied herausschält. Dann habe ich zwei Teile, die eigentlich gar nichts miteinander zu tun haben, und irgendwann sitze ich da und spiele Gitarre und stelle fest: Hey, das könnte man ja auch miteinander verbinden. Und das ist teilweise schon eine Puzzlearbeit.
Wie lange braucht denn ein Lied, um zu entstehen?
Das längste Lied, an dem ich immer wieder versucht habe weiterzukommen, an dem ich ununterbrochen gearbeitet habe, hat etwa eineinhalb Jahre gedauert. Das war eine Ballade von „Die Ärzte“.
Sie sagen, Sie können keine Noten lesen – wie funktioniert dann das Song- und Textschreiben?
Ja, ich könnte es natürlich lernen. So schwierig ist es nicht, aber ich brauche es nicht in meinem Leben. Ich muss meine Ideen ja nicht aufschreiben, ich muss sie nur spielen. Die werden dann einfach verinnerlicht.
Es heißt, dass Sie bereits mehr als 100 Länder besucht haben. Wie viele sind es denn genau?
Ach, wenn ich das jetzt sage, dann gibt es wieder Leute, die denken, dass ich damit angebe. Ich lebe eben ein sehr untypisches und zum Teil sehr privilegiertes Leben, und ich möchte jetzt wirklich nicht damit angeben. Also, ich habe schon wirklich viele Länder gesehen, aber noch lange nicht alle.
2011 sollen es 117 Länder gewesen sein, habe ich jedenfalls gelesen.
Das war einmal. Jetzt sind es noch ein paar mehr (lacht).
Gibt es ein Land, das sie unbedingt noch sehen wollen?
Ja, es gibt sehr viele Länder. Es gibt einige Länder, in die man zurzeit aus gesundheitlichen Gründen oder politischen Gründen, wie es so schön euphemistisch heißt, nicht reisen sollte. Und da gibt’s schon viele, in denen ich noch nicht war.
Gibt es ein Traumland?
Das ist bei mir anders. Traumländer gibt es nicht. Ich möchte halt wirklich die ganze Welt besuchen. Und in Westafrika beispielsweise hat mir das, was ich bislang gesehen habe, wirklich gut gefallen. Aber im Augenblick ist es nicht so eine gute Idee, dorthin zu fahren. Leider, leider, leider. Ich hoffe mal, dass das nicht noch viel schlimmer wird. Sobald das irgendwie geht, würde ich da gerne wieder hinfahren.
Was hat Sie an Westafrika so fasziniert?
Das ist sehr vielfältig. Einerseits die unterschiedlichen Kulturen. Die Menschen – da habe ich bislang nur tolle Sachen erlebt – oder fast nur. Andererseits gibt es auch Lehmarchitektur, die mich sehr fasziniert. Die Natur ist wunderschön und ganz vielfältig. Eine sehr, sehr, sehr interessante Gegend.
Was heißt „fast nur“? Sind Sie schon mal überfallen worden?
Ja, es passiert gelegentlich, dass Leute versuchen, mich zu überfallen. Aber zum Glück nicht sehr häufig mit Erfolg.
Sie haben also eine Strategie, wie Sie sich wehren?
Nö, ich renne dann einfach weg. Wenn ich Angst habe, bin ich unfassbar schnell. Ich habe echt lange Beine, und da geht einiges. Usain Bolt und ich können uns da echt tief in die Augen blicken (lacht).
Mit dem Rucksack rennt es sich sicher besser als mit dem Koffer. Wie reisen Sie?
Das kommt darauf an, auf welche Reisen ich gehe. Aber bei Abenteuerreisen nehme ich auf jeden Fall den Rucksack.
Nach sechs Jahren bringen Sie nun wieder mit dem Racing Team ein Album heraus – wann entscheiden Sie, dass es mal wieder Zeit für einen Alleingang wird?
Ich kann das nicht alleine entscheiden. Letztes Jahr habe ich das ganze Racing-Team zusammengerufen und gesagt: So, es ist schon eine lange Zeit her. Ich hätte mal wieder Lust. Wie sieht es bei euch aus? Und bis auf einen Saxofonisten haben alle gesagt, dass sie Zeit und Lust haben und noch mal mitmachen. Die Band hat natürlich auch ihr eigenes Leben, sitzt jetzt nicht fünf Jahre herum und wartet darauf, dass der Herr Urlaub sie mal wieder anruft. Da geht eben alles andere weiter. Aber wie gesagt, es ist genug Freude vorhanden, und nun geht’s wieder los.
Warum brauchen Sie den Alleingang?
Ich schreibe viel zu viele Lieder. Eigentlich müsste ich noch eine dritte Karriere anfangen, um so langsamalle Songs abzuarbeiten, die bei mir zu Hause rumliegen. Das ist wirklich schon krankhaft. Mir fällt ständig irgendetwas ein, und dann denke ich immer: Oh nein, wo soll ich das denn jetzt noch draufpacken? Mein erstes Soloalbum entstand so, dass es ein paar Stücke gab, die ich „Die Ärzte“ angeboten hatte. Bela und Rod wollten sie aber nicht. Ich fand die Lieder aber schön und hatte noch ein paar andere Sachen aufgenommen – und dachte mir: So, das probierst du jetzt mal alleine. Es lief dann richtig gut. Ich war von dem Erfolg total überrascht.
Sie sind mehr als 30 Jahren mit „Die Ärzte“ unterwegs, in wenigen Tagen werden Sie 51 Jahre alt. Auf ihrer Homepage schrieb kürzlich ein Fan: „Sie haben sich echt gut gehalten“.
Das ist so das Allerallerschlimmste, was man jemandem schreiben kann (lacht). Mit so was muss ich mich dann rumschlagen. Deswegen habe ich das direkt auf meiner Homepage veröffentlicht. Im Englischen sagt man so schön: A backhanded compliment. Ein tödliches Kompliment. Es klingt nett, aber es ist so erniedrigend.
Wie wichtig sind Ihnen Äußerlichkeiten?
Bei mir selbst ist es mir überhaupt nicht wichtig. Ich gucke ja aus mir raus. Auch bei anderen Menschen hält sich das in Grenzen. Wenn jemand besonders schön ist, dann finde ich das schon angenehm. Aber das ist nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, dass die Leute etwas in der Birne haben.
Hat das Alter eine Bedeutung für Sie?
Ich denke immer, dass ich mich langsam so richtig alt fühlen müsste. Aber das lässt auf sich warten. Ich werde langsam nervös.
Warum?
Weil ich mich langsam mal reifer fühlen müsste. Das Alter ist mir nicht so wichtig. Aber die Reife – wo bleibt sie? Verdammt!
Aber es ist doch schön, dass Sie immer noch den Schalk im Nacken haben.
Ja, aber zwischen Schalk im Nacken und infantil ist manchmal schon so ein schmaler Grat. Und als zwangswitziger alter Mann möchte ich jetzt auch nicht durch die Welt gehen.
Wobei das bei Ihren Fans gut ankommt.
Ich frage mich aber auch, ob das nicht langsam Mitleid ist. So nach dem Motto: Ach guck mal, der arme Alte.
Wer bekam das neue Album eigentlich als Erstes vorgespielt?
Wer hat’s zuerst gehört? Als Erstes hat es der Masterer gehört. Natürlich werde ich irgendwann meinen Freunden damit auf die Nerven gehen. Aber das hat noch ein bisschen Zeit. Ihnen möchte ich lieber das fertige Album präsentieren, also inklusive Cover und mit allem Zipp und Zapp. Nur die Musik behalte ich in den ersten Wochen für mich alleine.
Wie wichtig ist Ihnen die Meinung Ihrer „Die Ärzte“-Kollegen?
Die ist nicht so wichtig. Denn es gefällt Bela und Rod nicht wirklich gut.
Tatsächlich?
Ja, was sollen sie sagen? Ist ja viel besser als das, was du für uns schreibst? (lacht) Die nehmen das mehr so zur Kenntnis. Ich schicke ihnen dann die fertige CD, und dann kommt meistens nur ein Danke zurück. Und ich denke mir nur so: Okay, verstanden.
Sind Sie selbst von jemandem Fan?
Natürlich von ganz, ganz vielen Künstlern, Musikern und Autoren. Ich bin ein richtiger Fanboy.
Von einer enttäuschten Fan-Liebe handelt ein Lied Ihres neuen Albums. Inwiefern haben Sie das selbst schon erlebt?
Das Lied ist sehr zwiespältig. Einerseits habe ich schon sehr viel selbst davon erfahren. Manche sagen dann: Früher seid ihr viel besser gewesen. Und ich denke mir: Ja, klar. Andererseits gebe ich aber auch zu, dass ich Alben von Musikern oder Bands höre, die mir sehr am Herz liegen, und mich frage: Aber warum denn jetzt so was? Ich finde es immer toll, wenn Leute sich ausprobieren und neue Sachen wagen. Aber wenn sie mir dann nicht gefallen, bin auch ich erst einmal beleidigt als Fan. Dann muss ich mich intellektuell bremsen: Halt, die brauchten das eben, um sich weiterzuentwickeln. Ich kenne diese Gefühle, die in diesem Lied beschrieben werden, auch. Der einzige Unterschied ist, dass ich weder Kinder habe noch sie nach einem Star taufen würde.
Sie machen in Ihren Liedern sowie auf der Bühne einen sehr positiven Eindruck. Sind Sie ein Optimist?
Oh ja, das ist ganz schlimm bei mir (lacht). Wenn sich ein Bekannter ein Bein gebrochen hat, sage ich: Hey, sei froh, dass du dir nur das Bein gebrochen hast! Mein Glas ist wirklich ständig halb voll oder ganz voll. Ich glaube auch immer, dass am Ende des Tages alles noch gut ausgeht. Damit gehe ich den anderen richtig auf den Zeiger. Es gibt leider Leute, die es sehr genießen, misanthrop unterwegs zu sein. Ich versuche ihnen dann zu zeigen, dass trotzdem alles schön ist.
In der Plattenindustrie sieht es hingegen oft nicht so schön aus, weil die Verkäufe immer weniger werden. Sie vertreiben Ihre Musik unter einem eigenen Label. Was ist besser, Platten oder MP3s zu verkaufen?
Selbstverständlich eine Platte. MP3 ist aus ökologischen Gründen vielleicht ganz wunderbar. Das klingt jetzt, als wäre ich mein eigener Großvater, aber mir tun so ein bisschen die Leute leid, die die Langspielplatte nicht mehr in ihrer Hochzeit erlebt haben. Das Gefühl, in einen Plattenladen zu gehen, alleine diese riesigen Erdölscheiben, die du hin und her wälzt, bis du die richtige gefunden hast. Die Cover waren toll und groß, in den Hüllen waren Texte versteckt und du musstest die ganze Zeit zuhören, um im richtigen Moment die Nadel wieder hochzunehmen und umzudrehen. Das war einfach schön. Die Aufmerksamkeitsspanne von einem typischen 90-sekündigen Youtube-Clip hätte uns damals sehr unterfordert. Das ist heute leider anders. Musik ist degradiert zum Werbehintergrundgeräusch. Wir haben ein neues Produkt, und dann brauchen wir ein frisches Lied, um es zu verkaufen. So weit ist es mit Musik gekommen, das finde ich schade.
Aber Sie sind doch Optimist. Haben Sie nicht eine Idee, diese Kurzlebigkeit zu überwinden?
Ja, ich heule dann einfach ein bisschen mehr. Das gleicht den ganzen Optimismus am Ende des Tages wieder aus.