Krimi-Autorin Donna Leon klagt über eine Zeit, „in der man nichts schreiben darf, was Leser kränkt, überrascht, verletzt oder verstört“. Ein Interview über Tabus.
„Niemand redet gern über Sex“, sagt Donna Leon beim Interview im Berliner Literaturhaus – um es dann ausnahmsweise doch mal zu tun. Dabei verrät die 80-Jährige nicht nur, wie es um das Liebesleben ihrer Helden bestellt ist, sondern auch, warum sie Sexszenen in ihren jetzt 32 Brunetti-Krimis konsequent vermeidet. Und weil wir einmal bei Tabuthemen sind, machen wir gleich weiter: mit dem N-Wort und der Zensur, dem umstrittensten Tod ihrer Krimis und dem einzigen Problem, auf das es für Donna Leon wirklich ankommt: die globale Erwärmung.
Frau Leon, was wurde Ihnen als Kind vorgelesen?
„Three Billy Goats Gruff“; da geht es um ein Untier, das unter der Brücke haust und die Leute in den Abgrund reißt. Es hat mir schreckliche Angst eingejagt; ich habe die Bilder immer noch vor Augen. Heute wäre sowas verboten. Wir leben jetzt in einer Welt, in der man nichts schreiben darf, was Leser kränkt, überrascht, verletzt, verstört oder in irgendeiner anderen Weise Empfindlichkeiten berührt.
Und das gefällt Ihnen nicht.
Nein, das gefällt mir ganz und gar nicht. Das nennt man Zensur.
Rassistische Wörter in historischen Büchern
Was sagen Sie zu der Praxis, Klassiker um rassistische Begriffe zu bereinigen? Wie den „Negerkönig” aus „Pippi Langstrumpf”.
Wir können nicht ändern, was die Menschen gefühlt und gesagt haben. Niemand würde wagen, Lincolns „Gettysburg Address“ zu redigieren – weil diese Säule der Demokratie heute noch unseren Glaubenssätzen entspricht. Aber bei anderen Texten passiert genau das: Im Namen von Werten und Moral redigieren die Leute die Vergangenheit um. Genauso, wie es die Kommunisten in Russland gemacht haben. Wer eben noch am Tag des Sieges mitmarschierte, wurde im nächsten Jahr schon wieder aus dem Foto retuschiert.
Demnach sind Sie eine entschiedene Gegnerin von Nachbesserungen?
Ich kann verstehen, warum Menschen Bücher überarbeiten wollen. Wir alle würden gern die Grausamkeiten vergessen, die zu uns gesagt wurden. Viele von uns würden sicher auch gern die Grausamkeiten vergessen machen, die sie selbst gesagt haben. Aber es ist eben geschehen.
Poppys Tod: Donna Leons größter Tabubruch
Waren Ihre Bücher jemals Gegenstand einer solchen Debatte?
In all den Jahren habe ich genau zwei wütende Briefe bekommen. Beide haben sich beschwert, weil ich Poppy getötet hatte – einen Golden Retriever. Wahrscheinlich habe ich in meinen Krimis an die 50 Menschen sterben lassen. Das stört keinen. Aber bei einem Golden Retriever hört der Spaß auf.
Wie ist Poppy denn gestorben?
Auf die wunderbarste Weise: Ich habe sie vergiftet. Sie war ein prächtiger Hund, lag immer unter dem Tisch eines Anwalts, und wenn Commissario Brunetti kam, sah er nur die süße Hundenase oder den flauschigen Schwanz – und eines Tages dann nur noch ihr aufgerissenes Maul und weißlichen Schaum. Buärgh … (Donna Leon ahmt vergnügt das Todesröcheln des Hundes nach.) Blausäure im Hundekeks. Arme Poppy.
Wusste der Hund zu viel?
Ihr Tod war eine Warnung an den Halter. Zum Ausgleich dafür lebt die kleine Sara, also der Hund im aktuellen Krimi, glücklich bis ans Ende ihrer Tage.

Keine Sexszenen für Brunetti – trotz regem Liebesleben!
32 Fälle haben Guido und Paola Brunetti jetzt schon zusammen gelöst. Schlafen die beiden eigentlich noch miteinander?
Natürlich. Es sind Italiener.
Haben Sie je eine erotische Szene zwischen den beiden beschrieben?
Ganz sicher nicht. Die britische Zeitschrift „Literary Review“ vergibt jedes Jahr den „Bad Sex in Fiction Award“ – für die schlechteste Sexszene in einem Roman.
Und das weckt keinen Ehrgeiz in Ihnen?
Runter mit den Klamotten, Brunetti, es gibt was zu gewinnen! Nein, überhaupt nicht. Bei der Preisverleihung müssen die Nominierten beim Dinner ihre miesen Sexszenen öffentlich vorlesen. Sowas können sich nur Engländer ausdenken. Alle lachen. Es ist fast unmöglich, Sex nicht lächerlich klingen zu lassen. Ich habe früh beschlossen, es gar nicht zu versuchen. Mir fällt auf, dass auch viele Leser Sexszenen ablehnen. Und dass viele Autoren Sex nur in Verbindung mit Gewalt schildern. Da halte ich mich raus. Ich glaube nicht, dass es einem Roman weiterhilft – egal, welches Genre.
Wirklich nicht?
Niemand redet gern über Sex, wenn er sich mit Freunden zum Essen trifft. Das hat Gründe. Nicht, weil es nicht zum Essen passt. Man vermeidet das Thema einfach. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Unterhaltung geführt zu haben, die sexuelle Dinge preisgibt. Das würde mir nicht behagen; es interessiert mich einfach nicht, was Sie tun.
Heute ermuntern viele gerade zu diesem Gespräch, um Scham und Tabus etwas entgegenzusetzen.
Aber ich muss doch nicht mich selbst ausziehen, damit Sie sich beim Ausziehen besser fühlen. Wie es den anderen mit ihrer Nacktheit geht, fällt nicht in meinen Verantwortungsbereich.
Warum Commissario Brunetti keine Frau geworden ist
Sie haben die Figur des Polizisten Alvise neu erfunden und outen ihn jetzt als schwul. Seit wie vielen Romane wussten Sie das von ihm?
Alvise war immer eine fast unsichtbare Figur. Seine einzige Eigenschaft war Schlichtheit. Er lächelt, er hilft allen, jeder mag ihn. Er ist der Golden Retriever des Reviers. Ein Trottel. Als ich einen Anfang für mein neues Buch gesucht habe, kam ich auf eine Gay Parade. Und da traf es mich wie ein Blitz: Alvise! Niemand weiß etwas über sein Privatleben – warum wohl?
Dann war es also nur die Freude am Spiel mit der Figur. Und keine Reaktion auf die homophobe Gesetzgebung in Amerika, die Don’t-say-gay-laws in Florida?
Niemals! Ich greife nie Themen auf, nur weil sie eine politische Bedeutung haben. Das war einfach nur eine Möglichkeit, aus der Lachnummer Alvise endlich eine Person zu machen.
Wäre Ihr Schreiben anders, wenn Sie nicht einen Mann zu Ihrem Helden gemacht hätten, sondern eine Frau?
Es stimmt natürlich: Frauen sehen die Welt anders als Männer. Literatur ist von Männern geprägt, die über Männer schreiben. Ich bin einfach der Tradition gefolgt. Aber der Hauptgrund ist: Die Romane spielen in Italien! Ein Polizist muss seine Autorität ausspielen, und in Italien geht das als Mann leichter.
Waren Sie nie verlockt, Paola mal in eine Miss Marple zu verwandeln und ihr einen Fall anzuvertrauen?
Das wäre albern und erzwungen. Brunetti hat jetzt seine Kollegin Elettra, die das besser kann. Paola ist nicht interessiert.

Alltäglicher Sexismus: Donna Leons Jugend im Patriarchat
Brunetti lacht im neuen Roman über die politischen Ideale seiner Jugend. Über welche Ihrer Ideale lachen Sie heute?
Ich bin in einem System aufgewachsen, das mir verdeutlichte: Du bist ein minderwertiges Wesen, weil du eine Frau bist. Das hat niemand ausgesprochen; aber alle haben danach gehandelt. Im Moment lese ich Bonnie Garmus’ „Eine Frage der Chemie“. Sie beschwört auf brüllend komische Weise, womit meine Generation zu leben hatte – die Beiläufigkeit, mit der Frauen ihre Geringfügigkeit bedeutet wurde, die alles vergiftende Misogynie.
Wie haben Sie damals reagiert?
Es fühlte sich an, als wäre ich im falschen Raum. Per definitionem als weniger wertvoll zu gelten, hat mich aufgeregt. Jahre später, als der Westen sich langsam korrigierte, hat es mich noch mal eingeholt, in einer noch bösartigeren Form. Das war, als ich Ende der 70er nach Saudi-Arabien gegangen bin. Da habe ich gemerkt, wie sehr ich selbst mich verändert hatte –weil ich mich nicht mehr damit abfinden konnte.
Donna Leon und die sexuelle Gewalt
Welche bösartige Frauenverachtung haben Sie dort erlebt?
Öffentliche Masturbation. Alle Frauen, mit denen ich damals gearbeitet habe, haben das erlebt: Im Bus, im Taxi, auf der Straße – immer sah dich jemand an und masturbierte. Irgendwann haben wir darüber gelacht. Es war wie eine Seuche.
Hatten Sie keine Sorge, dass Sie angegriffen werden?
Wir waren an öffentlichen Orten. Und sie konnten gar nicht über mich herfallen. Im Bus mussten Frauen ja hinten sitzen, über dem Motor bei 43 Grad im Schatten. Es war wie bei der Rassensegregation. So ein aggressives Verhalten hatte ich vorher nie erlebt. Trotzdem: Sexuelle Einschüchterung von Frauen ist eine gesellschaftliche Konstante.
Lustiger Video-Fragebogen mit Donna Leon:
Empfinden Sie das heute noch so?
Sexismus spricht sich nicht mehr so offen aus. Aber wenn ich Männer reden höre, kommt es mir manchmal wie retuschiert vor. Unerwünschte Annäherung ist allgegenwärtig, auch in westlichen Gesellschaften. Mit 80 Jahren bin ich nicht mehr das Zielobjekt, aber meine jüngeren Freundinnen erleben das immer noch. Und es ist sehr verstörend, wenn man Avancen bekommt, die ein klares „Nein, danke!“ nicht beendet.
Ihr aktueller Krimi führt die Figur eines Stalkers ein, der für den eigentlichen Fall dann gar keine Rolle spielt.
Da greife ich einfach auf, was ich ständig in der Zeitung lese: Immer wieder geht es um Männer, die Kontaktsperren kriegen und sich den Frauen dann trotzdem nähern.
Ein Loblied auf Italiens größten Porno-Star
Brunetti bekommt im neuen Fall eine uralte Supermarkttüte in die Hände, die alle in nostalgische Flashbacks stürzt. Was ruft bei Ihnen starke Erinnerungen wach?
Neulich saß ich in einer Bar und auf einmal wurde mir bewusst, dass ich genau hier die Nachricht vom Tod Moana Pozzis gehört habe. Ich habe immer noch vor Augen, wie sich zwei Frauen in ihren Achtzigern damals vor Trauer nicht fassen konnten. Die gute Moana, diese grundsympathische Frau! Sie waren den Tränen nahe.
Moana Pozzi?
Italiens größter Pornostar. Sie hat Sexfilme gedreht, aber sie war eben auch charmant und geistreich, immer sehr anständig angezogen. Ihr Vater war Physik-Professor in Padua, meine ich. Offensichtlich weiß ich eine ganze Menge über Moana – warum eigentlich?
Donna Leon wird am 8. September 1942 in Montclair, New Jersey, geboren. Als Literaturstudentin lebt sie unter anderem in Siena und Perugia. Später arbeitet sie als Reisebegleiterin und Werbetexterin und unterrichtet in Maryland, in der Schweiz, Saudi-Arabien, China – und im Iran, aus dem sie 1979 vor der islamischen Revolution flieht. Sämtliche Notizen und Unterlagen zu einer Promotion über Jane Austen gehen dabei verloren. Pläne für eine akademische Laufbahn gibt sie danach auf. Ihren ersten Roman und zugleich den ersten Fall von Commissario Brunetti veröffentlicht Donna Leon als sie schon 50 Jahre alt ist. Seitdem stürmt Sommer für Sommer ein neuer Venedig-Krimi die Bestsellerlisten. Der 32. Band der Reihe heißt „Wie die Saat, so die Ernte“ und erscheint am 24. Mai 2023.
Ich merke langsam, dass junge Kollegen die Stars meiner Kindheit nicht mehr kennen – so wie ich Ihre Moana nicht kenne. Wie gehen Sie damit um, dass der eigene Referenzrahmen in die Jahre kommt?
Neulich habe ich mit zwei Uni-Absolventinnen gesprochen, die das Wort Skorbut nicht mehr kannten, die Seefahrerkrankheit. Ich kann Ihnen nur raten, damit abzuschließen. Mir ist irgendwann klar gewesen: Jetzt kommt die Zeit, in der ich einfach nicht mehr reinpasse. Weil ich nicht mehr verstehe, wovon die Leute reden. Aber das darf mich nicht berühren. Ich hab nicht mal ein Handy – und es ist wundervoll!
Gibt es Momente in Ihrer Vergangenheit, zu denen Sie sich zurücksehnen?
Nein. Ich glaube, ich stecke nicht so in der Vergangenheit. Über die Zukunft denke ich auch nicht viel nach.
Ich werde tot sein: Donna Leon zur Klimakatastrophe
Ihr Erfolg kam spät; den ersten Brunetti-Band haben Sie mit 50 veröffentlicht. Wie haben Sie davor auf ihr Leben geblickt?
Ich hatte viele Freunde und viel Zeit. Ich habe unterrichtet, ich war in Venedig, der schönsten Stadt der Welt. Das Beste, was meine Eltern mir mitgegeben haben, ist mein Mangel an Ehrgeiz. Weder mein Bruder noch ich hatten jemals den Wunsch, erfolgreich, bedeutend, reich oder berühmt zu sein. Ich habe Menschen erlebt, die von unerfüllten Ambitionen zerstört wurden: Sänger, die eine große Karriere erwartet haben, die niemals kam.
Im neuen Roman schreiben Sie sinngemäß: Die Jugend will die Welt zu einem besseren Ort machen, egal, was es kostet. Aber die Alten sind nicht bereit, den Preis zu zahlen. Was wäre denn der Preis?
Wir dürfen nicht mehr so lang duschen.
Duschen?
Wir Alten haben Klima-Chaos angerichtet. Das ist unser einziges Problem. Hier und da in der Welt gibt es noch kleinere Probleme, aber das große Problem, das Problem, auf das es ankommt, das ist das Klima. Das haben wir uns mit 20 Minuten langen Duschen eingehandelt, und mit Städtetrips nach Dresden, bei denen wir nichts als Christstollen kaufen. Die Zeit, in der wir alles haben konnten, ist vorbei.
Der ewige Generationenkonflikt, über den Brunetti klagt, bekommt durch die Klimakatastrophe also schon eine neue Qualität?
Genau. Meine Generation hat die Mahlzeit gegessen und die jungen Leute zahlen die Rechnung. Wir Alten nicht. Wenn es richtig schlimm wird, werde ich tot sein.