Welches Buch hat Donna Leon nie zu Ende gelesen? Schmeißt die Krimi-Schriftstellerin alte Bücher in den Müll? Die Autorin der Brunetti-Bücher stellt sich literarischen Gewissensfragen.
Jahr um Jahr schreibt die Amerikanerin Donna Leon einen neuen Venedig-Krimi über den Commissario Brunetti. Geht es in ihrem Bücherregal genauso geordnet zu wie in ihrem Publikationsplan? Wir haben die Schriftstellerin gefragt.
Frau Leon, erinnern Sie sich an das erste Buch, das Sie selbst gelesen haben?
Ganz sicher war eins davon „Winnie-the-Pooh“. Darin haben die Figuren Gedanken wie diesen: „Ist es nicht eigenartig: Was immer man auch sucht, stets findet man es an dem Ort, an dem zuletzt guckt.“ Das Buch ist voller solcher wundervollen Sätze.
Welches Buch haben Sie am häufigsten gelesen?
Wahrscheinlich „Große Erwartungen“. Ich denke, das ist das beste Buch von Charles Dickens. Wobei – nein: Das beste von Dickens ist „Bleak House“. Aber „Große Erwartungen“ ist auf die unauffälligste Weise instruktiv. Das Buch erzählt dir, wie du anständig lebst, indem es dem Waisenjungen Pip auf seinem Lebensweg folgt. Es führt vor, wie er Fehler macht und wie er sich korrigiert – das aber alles mit seinen eigenen Augen. Ich habe es in Seminaren behandelt. Gelesen habe ich es fünf oder sechs Mal.
Welches Buch haben Sie nie zu Ende gelesen?
Nie beendet habe ich „Moby-Dick“. Und ich habe auch nicht das Bedürfnis, „Moby-Dick“ zu Ende zu lesen. Edmund Spensers „The Faerie Queene“ habe ich auch nie ausgelesen; was mich nicht davon abgehalten hat, auch das an der Uni zu unterrichten. Mit den ersten drei Vierteln war ich durch; und weil es nur in einem Überblickskurs zur englischen Literatur vorkam, konnte ich das mit meinem Gewissen vereinbaren.
Donna Leon wird am 8. September 1942 in Montclair, New Jersey, geboren. Als Literaturstudentin lebt sie unter anderem in Siena und Perugia. Später arbeitet sie als Reisebegleiterin und Werbetexterin und unterrichtet in Maryland, in der Schweiz, Saudi-Arabien, China – und im Iran, aus dem sie 1979 vor der islamischen Revolution flieht. Sämtliche Notizen und Unterlagen zu einer Promotion über Jane Austen gehen dabei verloren. Pläne für eine akademische Laufbahn gibt sie danach auf. Ihren ersten Roman und zugleich den ersten Fall von Commissario Brunetti veröffentlicht Donna Leon als sie schon 50 Jahre alt ist. Seitdem stürmt Sommer für Sommer ein neuer Venedig-Krimi die Bestsellerlisten. Der 32. Band der Reihe heißt „Wie die Saat, so die Ernte“ und ist im Mai 2023 erschienen.
Wir ordnen Sie die Bücher in Ihren Regalen?
Überhaupt nicht.
Brauchen Sie an Ihren verschiedenen Wohnsitzen verschiedene Bücher?
Nein, aber es gibt ein Buch, das ich in jeder meiner Wohnungen habe: „Calli, Campielli e Canali“ – das beste Buch über Venedig. Es ist fingerdick und beinhaltet nichts als Karten. Es beginnt mit einer Übersichtskarte, die in kleine Quadranten aufgeteilt ist; und zu jedem Quadranten gibt es dann eine Extra-Karte. Auf diese Weise finde ich jede Straße in Venedig.
Was Donna Leon über Krimis ohne Auflösung denkt
Dickens hat einen unvollendeten Krimi geschrieben. Bevor das Ende fertig war, ist er gestorben. Könnten Sie einen Krimi ohne Auflösung schreiben?
Nein – und das, obwohl mich selbst überhaupt nicht interessiert, wer es getan hat. Mich interessiert, warum der Täter es getan hat. Was hat eine Person dazu getrieben, eine andere zu töten? „Das Geheimnis des Edwin Drood“, Dickens‘ unvollendeten Roman, habe ich nie gelesen. Jane Austens unvollendeten Roman „Sanditon“ auch nicht.

Dabei wollten Sie doch einmal eine Doktorarbeit über Jane Austen schreiben – bis Ihre Unterlagen verloren gingen.
Zum Glück! Damals war ich an der Uni im Iran; und als die Islamische Revolution ausbrach, wurde ich evakuiert. Man hatte uns gesagt, dass sämtliche Papiere am Flughafen konfisziert würden, habe ich mehrere Abschriften in verschiedenen Koffern versteckt. Als ich in den Vereinigten Staaten ankam, waren sie weg. Irgendein treuer Anhänger Ayatollah Khomeinis hat meinen „Wandel der moralischen Ordnung in Jane Austens Welt“ einkassiert. Ich hoffe, es hat ihn im Leben weitergebracht.
Wissen Sie Ihre Kernthese noch?
Die war, dass Jane Austens Heldinnen Männer heiraten, die ihrem Vater gleichen – oder dessen radikale Gegner sind.
Donna Leon: Bücher darf man auch in den Abfall werfen
Ist es in Ordnung, alte Bücher wegzuwerfen?
Besser wäre es, sie zu verschenken. Aber ja: Ich glaube nicht, dass Bücher heilig sind.
Gibt es ein Buch, das man jedem schenken kann?
Im Moment würde ich darauf antworten: Thackerays „Jahrmarkt der Eitelkeit“. Das habe ich gerade zum dritten Mal gelesen. Ich liebe Becky Sharp. Sie ist eine der größten Heldinnen der englischen Literatur – und bösartig. Oder vielleicht sage ich besser: Sie ist eine Frau ihrer Zeit und heute würden wir sie als Heldin sehen. Sie ist unabhängig, intelligent, ausgefuchst, sehr attraktiv – und sie begreift genau ihre Stellung in ihrer Welt und weiß auch, wie man sie verbessert: Sie muss einen reichen Mann finden, und das ist dann auch das Erste, was sie macht.
Was ist das beste Kinderbuch?
Ich hasse Fantasy; sowas lese ich nicht. Punkt. Aber: Wenn es clevere Kinder sind, rate ich trotzdem zu Philip Pullmans Trilogie „His Dark Materials“, es geht um ein alternatives Universum und es ist wundervoll.
Welches Buch soll ich im nächsten Urlaub lesen – nachdem ich Ihren neuen Krimi schon gelesen habe?
Wenn Sie meins gelesen haben, brauchen Sie in Ihrem Leben kein anderes Buch mehr zu lesen.