
Am Donnerstag beginnt die 68. Berlinale. Vorab erklärt der Festival-Chef Dieter Kosslick, wie die #MeToo-Debatte das Programm prägt, welche Stars er am liebsten auf dem roten Teppich sieht und warum in diesem Jahr auch Landwirtschaftsminister Schmidt ins Kino gehen sollte.
Herr Kosslick, Sie stehen vor Ihrer 17. Berlinale. Wie haben Sie es geschafft, im Februar immer gesund zu bleiben?
Gesund und munter. Wenn man munter bleibt, bleibt man auch gesund. Ich rauche nicht, gehe nicht ohne Mütze und Schal aus dem Haus, und seit gestern nehme ich diese unaussprechlichen afrikanischen Tropfen für das Immunsystem. Und ich mache Yoga. Wenn alles vorbei ist, gehe ich zur Fastenkur. Um ganz ehrlich zu sein: Es hat nicht immer geklappt. Zweimal war ich krank, wir haben hier ja diesen berühmten Ostwind.
Im nächsten Jahr läuft Ihr Vertrag aus; wenn Sie nicht doch noch verlängern, bleiben Ihnen zwei Berlinalen. Haben Sie noch was Besonderes vor?
Ich würde nichts nachholen wollen – sondern eher ein paar Leute noch mal dabeihaben. Zum Beispiel Frances McDormand, Isabella Rossellini, Meryl Streep, Tilda Swinton. Ich würde die Zeit gern mit meinen „Cousins“ beschließen – so nennt Tilda, die dieses Jahr auch wieder kommt, die Leute, enge Freunde und Menschen, die ihr nahestehen.
Gibt es ein Erlebnis, das Sie sich einrahmen würden?
Eines? Das ist schwer, aber ich würde sagen: Als die Rolling Stones mit Scorseses „Shine a Light“ da waren, ist ein Traum in Erfüllung gegangen. Als Festivaldirektor konnte ich einen Super-Film präsentieren und meinem Hobby frönen: Ich habe nun eben auch mal in einer Rock-’n’-Roll-Band gespielt.
Durften Sie am Bass von Ron Wood zupfen?
Am Bass habe ich nicht gezupft, aber auf meiner Stratocaster haben Ronnie Wood und ich zusammen „Time is on my side“ gespielt. Und das ist eigentlich auch ein schönes Motto, mit dem ich nächstes Jahr in meine letzte Berlinale gehen will.
Was sind die wichtigsten Filme des anstehenden Festivals?
Das kann ein Festivaldirektor nicht beantworten. Im Wettbewerb sind 19 Filme – und wenn Sie 19 Kinder hätten, welches wäre dann ihr liebstes? Wenn Sie nach einem Film fragen, den ich außerhalb des Wettbewerbs wichtig finde, würde ich auf Fernando Solanas’ Dokumentation über ökologische Verbrechen der industriellen Landwirtschaft hinweisen. Er beobachtet in Argentinien die Missbildungen von Kindern. Sie wuchsen in der Nähe von Glyphosat-besprühten Feldern auf und sind dort zur Schule gegangen. Das sollten sich alle ansehen, vor allem der Landwirtschaftsminister Christian Schmidt, mit dessen Stimme dieses völlig verharmloste chemische Mittel in der EU für weitere fünf Jahre zugelassen wurde.
Ihr Eröffnungsfilm ist Wes Andersons „Isle of Dog“, dessen Helden Trickfilm-Hunde sind. Konnten Sie die Synchronsprecher für den roten Teppich gewinnen? Von Bill Murray bis Scarlett Johansson ist ein gutes Dutzend Superstars dabei.
Auf jeden Fall. Selbst wenn nur die Hälfte all der Schauspieler kommt, die da bellen, haben wir einen sehr glamourösen Eröffnungsabend.
Ausgerechnet am Eröffnungstag der Berlinale startet in den Kinos der Oscar-Favorit „The Shape of Water“. Warum hatte der seine Premiere in Venedig und nicht bei Ihnen?
Es gibt Filme, die rechtzeitig für Cannes fertig werden, Filme, die rechtzeitig für Venedig fertig werden. Und solche, die es zur Berlinale schaffen. Letztes Jahr waren dies zum Beispiel die beiden ebenfalls für den Oscar nominierten Bären-Preisträger „Körper und Seele“ und „Eine fantastische Frau“. Die Produzenten und Verleiher können einen Film nicht monatelang liegen lassen, bevor er ausgewertet wird. Das war mal so, sogar vor 17 Jahren noch, als ich zum ersten Mal nach Hollywood gefahren bin. Da waren im Herbst Filme fertig, die sie bis zur Berlinale zurückgehalten haben. Das ist längst vorbei – aus Angst vor Piraterie und auch weil die Filme mit Krediten finanziert werden und schneller in die Kinos kommen müssen, wenn sie fertig geworden sind.
Ein bisschen hat es womöglich auch mit dem Oscar zu tun?
Das stimmt. Viele Filme laufen im Dezember und Januar an, weil sie sich für die Oscars qualifizieren wollen; das setzt einen vorherigen Filmstart voraus. Natürlich begünstigt das eine spätsommerliche Premiere in Venedig, aber die Berlinale kann dennoch weiterhin auch mit Star-Power aus Hollywood punkten.
Die deutschen Filme, die zuletzt am meisten für Furore sorgen, liefen in Cannes: Maren Ades „Toni Erdmann“ und Fatih Akins „Aus dem Nichts“ – Filmemacher, deren Karriere mit Berlinale-Bären begann.
Maren Ade hatte vorher all ihre Filme bei uns gezeigt und auch Bären gewonnen. Bei „Toni Erdmann“ hieß es, der Film ist nicht fertig. Um Fatih Akin hatte ich mich natürlich auch bemüht, er hatte ja 2004 bei uns einen Goldenen Bären gewonnen. Wenn Sie fragen wollen, ob die Berlinale nach Cannes hintanstehen muss. Nein, aber andere sehen das anders.
Und was sind die Gründe?
Da müssen Sie die Leute fragen. Wenn man einige Zeitungen liest, könnte man meinen, dass man die Berlinale abschaffen sollte und besser ganz nach Cannes geht. Wenn man aber in Cannes ist, sagen alle, wie schlimm es dort ist: Vor der Berlinale ist dann wieder in Cannes alles besser. Was soll ich da widersprechen? Jedes Jahr beantworte ich zwei Monate lang diese fürchterliche Frage. Wenn ich im nächsten Jahr meine letzte Berlinale habe, freue ich mich auf nichts so sehr wie auf das Ende dieses Themas.
„Aus dem Nichts“ ist von der deutschen Kritik skeptisch aufgenommen worden – und hat mit Globe und Critics Choice Award die wichtigsten internationalen Kritikerpreise ...
... und ich freue mich, dass unter den fünf Nominierten für den Auslands-Oscar 2018 zwei Berlinale-Preisträger sind, darunter der Goldene Bär von Ildikó Enyedi. Zwei Nominierte sind bei der Berlinale gelaufen, zwei in Cannes und einer in Venedig. Wir stehen also nicht hinten an.
Das wollte ich ja gar nicht fragen. Fatih Akin ist bei den Oscars nicht nominiert. Zu Recht, finde ich. Was sagen Sie?
Es hat mich wirklich gefreut, dass ein politischer Film es in Los Angeles so weit geschafft hat. Da kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch, Fatih!
Sie leiten das größte Publikumsfestival der Welt und begeistern 335000 Zuschauer für taiwanesische Arthouse-Filme mit Untertiteln – für den Rest des Jahres gehen die Leute in „Fack ju Göhte“. Bewirkt die Berlinale denn gar nichts?
„Fack ju Göhte“ trifft den Nerv von sieben Millionen Leuten; und wenn so viele Menschen ins Kino gehen, finde ich das gut. Umgekehrt ist es natürlich interessant, dass bei uns in zehn Tagen Hunderttausende normaler Menschen in abenteuerliche Filme gehen – offensichtlich besteht gesellschaftlich auch noch ein anderes Bedürfnis.
Hollywood wird von der #MeToo-Debatte durchgeschüttelt. Sie waren in Hamburg mal Sprecher der Leitstelle für die Gleichstellung der Frau. Hat das die Berlinale geprägt?
Das sollte mich natürlich genügend sensibilisiert haben. Ich habe mein Leben lang mit überwiegend weiblichen Teams gearbeitet, in Hamburg, später auch als Präsident der ersten europäischen Filmförderung. Auch dann bei der Filmstiftung NRW und hier bei der Berlinale. Beim Personal kann man das Geschlechterverhältnis leicht beeinflussen. Bei den Filmen ist es schwieriger, aber die Zahl der Einreichungen von Regisseurinnen steigt. In diesem Jahr sind es im Wettbewerb vier – was bei 19 Filmen natürlich wenig ist. Aber früher waren es gar keine. Bei den Kamerafrauen gibt es weniger, beim Drehbuch und in der Produktion holen die Frauen auf – bei der Berlinale überholen sie sogar.
Ridley Scott hat Kevin Spacey aus „Alles Geld der Welt“ rausgeschnitten, dem sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden. Würden Sie, wenn Sie es könnten, beide Fassungen zeigen?
Der Vergleich wäre auf jeden Fall interessant. Ob ich es machen würde, weiß ich nicht. Das berührt eine Debatte, die auch auf der Berlinale geführt wird: Kann man die Kunst vom Künstler trennen? Wenn man sich die Filmgeschichte daraufhin ansieht, die Kulturgeschichte überhaupt, dann wird man wahrscheinlich zur Ansicht kommen: Man muss es trennen. Als Veranstalter haben wir uns in diesem Jahr trotzdem anders entschieden. Wir haben in diesem Jahr Arbeiten von Leuten nicht im Programm, weil sie für ein Fehlverhalten zwar nicht verurteilt worden sind, es aber zumindest zugegeben haben.
Verraten Sie die Namen?
Nein.
Tilda Swinton wird vorgeworfen, dass sie in „Doctor Strange“ als Weiße eine ursprünglich asiatische Figur gespielt hat, Liam Neeson, dass er in der #MeToo-Debatte vor Hexenjagd warnt. Die moralische Sensibilisierung ist derzeit sehr hoch. Zu hoch?
Bei all diesen Debatten finde ich vieles ganz kompliziert, Grenzen zu setzen. Seit 17 Jahren umarme ich auf dem roten Teppich Tausende von Menschen. Ist das noch politisch korrekt?
Ich denke, da dürfen wir Einvernehmlichkeit unterstellen. Wenn Deneuve nicht umarmt werden will, merken Sie es.
Das stimmt. Bei #MeToo gibt es meines Erachtens eine klare Grenze: Alles, was durch Gewalt aufgezwungen wird, ist ein Vergehen. Jenseits dieser Grenze gibt es aber viele Schattierungen und Einzelfälle, über die man diskutieren muss. Und auch dazu ist die Berlinale da. Wir haben einen Film über Astrid Lindgren im Programm: Darf Pippi Langstrumpfs Vater noch ein „Negerkönig“ sein? Muss man das Wort entfernen? Was hat es bedeutet, als Lindgren es vor vielen Jahrzehnten geschrieben hat? #MeToo ist auch bei der Berlinale 2018 präsent. Im Bereich des Filmmarkts diskutieren wir auf mehreren Veranstaltungen Diversität, Inklusion, aber auch Geschlechter-Gerechtigkeit. Als Festival möchten wir nicht nur Entwicklungen verfolgen, sondern auch ein Ort sein, wo Probleme gehört und diskutiert werden.
In Cannes gab es Ärger, weil Netflix Spielfilme im Wettbewerb hatte, sie aber nicht im Kino zeigen will. Nähren Festivals im Serien-Hype die Schlange an der Brust?
Wir haben in unserem Wettbewerb keinen einzigen Film, der nicht für eine Kinoauswertung vorgesehen ist. Wir haben einen Film von Amazon dabei, Gus van Sants „Don’t Worry, He Won’t Get Far on Foot“, der wird ins Kino kommen. Serien laufen bei uns im Rahmen des Europäischen Filmmarktes; und wir haben eine klare Haltung:. Ein Netflix-Film, der von vornherein nicht für die Leinwand bestimmt ist, könnte bei uns aufgrund unserer Regeln nicht im Wettbewerb laufen.
Netflix hat es auf den Konflikt ankommen lassen. Schadet das Unternehmen der Filmkultur?
Das Gefühl habe ich nun nicht. Serien haben neue Erzählformen entwickelt, man redet seit Jahren über die Revolution des filmischen Erzählens. Natürlich müssen wir das zeigen, zumal viele Regisseure und Schauspieler in beiden Bereichen arbeiten. Schädlich für die Filmkultur ist Netflix bestimmt nicht. Schädlich für die Kinokultur vielleicht, weil sie am Kino vorbeistreamen, aber das ist eine andere Diskussion.
Was wären denn Ihre schlimmsten Befürchtungen?
Ich denke, dass das Kino überleben wird. Weil es einzigartig ist. Aber die Leute haben heute ein vollkommen anderes Nutzungsverhalten, die gucken auf dem iPad, zu Hause, beim Streamingdienst. Das merken wir, und andere Festivals werden es auch merken. Bis jetzt setzen die Verleiher auf einen Plattformstart wie die Berlinale, wo fast 4000 Journalisten Interviews und Kritiken schreiben. Aber natürlich kann man so eine Veranstaltung auch zu Hause in Los Angeles machen, am Hollywood Boulevard, und auf 22000 Bildschirme in aller Welt übertragen. Die Stars wohnen da sowieso, die muss man dann gar nicht mehr durch die Welt kutschieren. Man könnte die Schauspieler einfach der Reihe nach durchs Chinese Theatre in Los Angeles schleusen wie die Paare durch die Hochzeitskapellen von Las Vegas. Das hat noch keiner vorgeschlagen, aber wenn Sie mich nach meiner apokalyptischen Vision der Festivalzukunft fragen, wäre es diese.