Besuch im Ruhrgebiet: SPD-Chef Sigmar Gabriel zeigt Verständnis für die „Sorgen und Ängste“ der Menschen, die sich abgehängt fühlen. Er verlangt „mehr Sicherheit“ für Deutschland, „nicht nur innere, sondern auch soziale Sicherheit.
Eigentlich könnte er in der Region ein Zimmer anmieten, so häufig wie SPD-Chef Sigmar Gabriel derzeit ins Ruhrgebiet reist . Mal gibt er den Arbeiterführer bei den Stahlkochern in Duisburg, mal fährt er zu Gesprächen nach Gelsenkirchen, die Stadt mit der bundesweit höchsten Erwerbslosenquote. In Oberhausen hat sich der Wirtschaftsminister mit dem Tunnel des Abwasserkanals der Emscher nun „die erfolgreichste, aber unbekannteste Großbaustelle in Deutschland“ angesehen.
Im Grunde müsste die Emscher namensgebend für die Region sein. Durchquert die Ruhr lediglich die südliche Kante des Ruhrgebiets, fließt die Emscher mitten hindurch. Im Dezember 1899 hatten sich Bergbau, Industrie und Anliegerkommunen in Bochum zur Emschergenossenschaft zusammengeschlossen. Sie war nach eigenen Angaben der erste deutsche Wasserwirtschaftsverband, zudem gilt sie als die erste administrative Klammer des Ruhrgebiets.
Inzwischen sieht sich die Region ob ihres Kirchturmdenkens häufig Kritik ausgesetzt. Sollte sie sich wieder an ihre Ursprünge erinnern? Gabriel sieht das weniger streng. Es gebe ja bereits viel interkommunale Zusammenarbeit im Ruhrrevier, lobt der Wirtschaftsminister. „Aus der Bergbau- ist eine Wissensregion geworden.“ Nirgendwo sei die Hochschuldichte so hoch wie hier. Gabriel erinnert daran, wie das Ruhrgebiet im Jahr 2010 zur Kulturregion zusammengewachsen sei. Überdies habe es ja „gleich zwei Strukturwandel bezahlt“, sagt er, „ihren eigenen und den in Ostdeutschland“.
Jeder Fünfte zählt zu den Armen
Mehr als fünf Millionen Menschen leben im Revier, laut dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes herrscht in ihr im bundesweiten Vergleich die größte Not: Jeder Fünfte zähle zu den Armen. Daher gilt die gebeutelte Region neun Monate vor der Landtagswahl in NRW, dem letzten Gradmesser vor der Bundestagswahl, einigen als Jagdgebiet rechtspopulistischer Parteien. Mit dem Strukturwandel verbinden viele in der Region erst einmal nichts Gutes, räumt Gabriel ein, oft hätten sich nach einem Jobverlust die Lebensumstände verschlechtert. „Dabei haben es die Menschen verdient, dass man den Strukturwandel erkennt.“
Der Vorsitzende der NRW-Landesgruppe im Bundestag, Achim Post, referiert dazu einige Zahlen. NRW, laut Gabriel nach wie vor „die Herzkammer der Sozialdemokratie“, verzeichne 300.000 Langzeitarbeitslose, davon lebten allein 125.000 im Revier. Gerade auf jene, die sogenannten Abgehängten der Gesellschaft, habe es die Alternative für Deutschland (AfD) abgesehen, sagt das Institut für Demokratieforschung der Universität Göttingen nach den Erfahrungen der zurückliegenden Landtagswahlen. Gabriel sagt, vor dem Wahljahr solle seine Partei „möglichst wenig versprechen, dafür anschließend aber viel halten“.
Gabriel zeigt Verständnis für schlechte Stimmung
Gabriel zeigt an diesem Tag viel Verständnis für die Stimmung, die sich bisweilen aus dem wirtschaftlichen Umbau im Revier ergibt. Die Sorgen derer, „die sich nicht mehr auskennen und Angst vor Zuwanderung haben, sollte man nicht generell als Fremdenfeindlichkeit abtun“, verlangt der Vizekanzler. Eher sollte man Sorgen und Ängste so weit wie möglich ernst nehmen. In dem Zuge spricht er sich für einen „echten zweiten Arbeitsmarkt“ aus, höhere Investitionen also in öffentlich geförderte Beschäftigung. Vor allem brauche Deutschland jedoch eines: „mehr Sicherheit, nicht nur innere, sondern auch soziale Sicherheit“.
In dem Maße, wie beides zuletzt abgenommen habe, sei die Fremdenfeindlichkeit gestiegen, sagt der SPD-Vorsitzende. Dabei hat er vorrangig zwei Gruppen im Blick, um die eine lohne es sich zu kämpfen. Diejenigen, die man zurückgewinnen könne, denen müsse man zuhören, ein Gefühl der Geborgenheit verschaffen. „Den anderen Teil werden wir nicht zurückgewinnen“, sagt Gabriel und schiebt fast ernüchtert hinterher: „Es gibt in einer Industriegesellschaft wie unserer offensichtlich echte Fremdenfeindlichkeit und Rassismus.“ Eines der Probleme sei, dass die AfD rassistische Sprüche salonfähig mache. „Die glauben, dass das geht.“