Ist die AfD längst normal? Erster AfD-Landrat: Alle empören sich, nur die Sonneberger nicht

Von Marie Busse | 27.08.2023, 11:23 Uhr 19 Leserkommentare

Wieder blickt ganz Deutschland nach Sonneberg. Der erste AfD-Landrat Robert Sesselmann ist in Thüringen vereidigt worden. Von der bundesweiten Empörung ist in Sonneberg nichts zu spüren. Wie kann das sein? Eine Spurensuche.

Sitzung 28 des Sonneberger Kreistags, Tagesordnungspunkt 3: Vereidigung des Landrats. AfD-Politiker Robert Sesselmann tritt ans Rednerpult, Kreistagsmitglied Manfred Franke (früher mal bei der CDU, heute Pro LK Sonneberg) liest vor: „Ich schwöre, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und die Verfassung des Freistaats Thüringen sowie alle in der Bundesrepublik geltenden Gesetze zu wahren und meine Amtspflichten gewissenhaft und unparteiisch zu erfüllen.“ Rechtsanwalt Sesselmann spricht ruhig und bestimmt nach. In weniger als einer Minute ist formell erledigt, worüber die Bundesrepublik seit Monaten diskutiert. Ein AfD-Mann bekleidet zum ersten Mal ein kommunales Spitzenamt. 

In der schmucklosen Aula des Hermann-Pistor-Gymnasiums, in der der Kreistag tagt, ist von der bundesweiten Aufregung nichts zu spüren. Sesselmann erhält Blumen – wie man das so macht nach einer Vereidigung. AfD-Kreistagsmitglieder, die den historischen Moment trotz Verbot fotografiert haben, rügt Kreistagspräsident Wilfried Luther (FDP): „Jürgen und Andreas, das ist unfassbar.“ Konsequenzen gibt es keine. 

Im Kreistag ist nichts von bundesweiter Aufregung zu spüren

Stattdessen wird die Tagesordnung pflichtgemäß abgearbeitet: Berufung des Kreiswegewartes, Diskussion über die Schließung der Geburtenstation im Krankenhaus, Ausstattung der berufsbildenden Schulen – Kommunalpolitik eben. 

In der Sitzungspause unterhalten sich Mitglieder verschiedener Fraktionen mit Sesselmann. Von Brandmauer ist in der Aula nichts zu spüren. Der Fraktionschef der Linken und Grünen, Uwe Schlammer, steht etwas hilflos in der Sommerhitze auf dem Schulhof, verteilt eine Erklärung, in der Sesselmann kritisiert wird. „Ich habe bei der Vereidigung die Sitzung aus Protest verlassen“, sagt er. Ein Parteifreund hat sich angeschlossen. Zwei von 40 Mitgliedern des Rats. 

Steht die Brandmauer nach rechts?

Die Wahl von Sesselmann hat bundesweit die Frage aufgeworfen: Wie steht es um die Brandmauer zur AfD? Lässt sich diese überhaupt noch aufrecht erhalten, wenn die Partei schon regiert? CDU-Chef Friedrich Merz hatte gesagt, man könne auf kommunaler Ebene mit der AfD reden. Und sich dann wieder korrigiert. 

Wie hält man das in Sonneberg nach der Wahl? Christian Tanzmeier, Fraktionschef der CDU im Kreistag, sagt: „Für uns stehen Sachfragen über dem Parteibuch.“ Von einem Kontaktverbot hält er folglich nichts. Dennoch betont Tanzmeier, gemeinsame Anträge mit der AfD wolle man nicht stellen. 

Sonneberger Gastwirt stellt sich gegen die AfD

In Sonneberg gibt es aber auch Menschen, die mehr Distanz fordern. Dazu zählt Marcel Rocho. Er ist in Sonneberg, der Kreisstadt des gleichnamigen Landkreises, geboren, lebte in seiner Jugend in Berlin. 1994 kehrte er in seine Heimat zurück. Der 43-Jährige betreibt die Bar „Gewölbe”. Er ließ nach der Wahl von Sesselmann die Punkband „Feine Sahne Fischfilet”, die von einigen Beobachtern der linksextremen Szene zugeordnet wird, in seiner Kneipe auftreten. 

Einen Tag nach der Kreistagssitzung sitzt er auf Palettenmöbel vor seiner Bar, auf seinem schwarzen T-Shirt steht „Antifascist”. Rocho raucht und trinkt Kaffee aus einer Pikachu-Tasse.

Spricht man über die AfD in der Stadt, redet er sich schnell in Rage. „Alle wissen, was die thüringische AfD für ein Verein ist. Aber es gibt hier keine Brandmauer nach rechts, das ist nicht mal ein Weidezaun“, sagt er.

Rechte Strukturen in Sonneberg lange akzeptiert

Man habe sich viel zu lang daran gewöhnt, an rechte Sprüche beim Grillabend, an Familienväter in Thor-Steinar-T-Shirts oder an Rechtsrock am späten Abend der Party. „Neulich hat jemand am Tresen den Hitlergruß gezeigt. Ich bin nicht mal auf die Idee gekommen, ihn anzuzeigen, weil das normal ist“, sagt Rocho. 

Während der Corona-Krise sei die Wut auf die Regierung gewachsen und die Stimmung gekippt, glaubt Rocho: „Da wurde plötzlich offen gesagt, was man sich davor vielleicht nur gedacht hat.“ Regelmäßig gingen in der südthüringischen 22.000-Einwohner-Stadt Tausende Menschen, um gegen die Corona-Politik zu demonstrieren. Und noch immer ist die Wut und Unzufriedenheit sichtbar. 

Wut auf die „die da oben“ in der ganzen Stadt sichtbar

Wer durch die Sonneberger Innenstadt läuft, muss gar nicht suchen, die Spuren der Wut sind unübersehbar. Ein Plakat mit der Aufschrift: „Lüge nicht, betrüge nicht, stehle nicht – die Regierung duldet keine Konkurrenz“ hängt an einem Balkon. An einem Ladenlokal klebt der Sticker: „Keine Impfung an Schulen: Hände weg von unseren Kindern“, an einem Laternenpfahl steht: „Gendern nicht mit mir“.

Im kostenlosen Wochenblatt „Südthüringer Rundschau“, das im Nachbarlandkreis Hildburghausen erscheint und auch in der Sonneberger Innenstadt ausliegt, werden Regierung und öffentlich-rechtlicher Rundfunk kritisiert. Auf der Titelseite heißt es „Sind ARD und ZDF eigentlich Staatsfunk?“ Die Frage ist eine rhetorische, die Antwort steht für die Autoren des Artikels fest: ja. Die Sender hätten Maßnahmenkritiker und Ungeimpfte in einer „seit 1945 nicht mehr dagewesenen Art und Weise verhetzt.“

Örtliche Firmen scheint das nicht zu stören. Sie schalten Anzeigen in dem Blatt, Apotheken informieren über den Notdienst und die beiden großen Kirchen über Gottesdienstzeiten. 

Ist die AfD in der Mitte der Gesellschaft angekommen?

Wut auf Regierung, Misstrauen gegenüber Medien, Vertrauen in alternative Informationsquellen und rechte Strukturen: In Sonneberg scheint einiges zusammenzukommen und das Resultat daraus ist der erste AfD-Landrat. In Sonneberg ist nicht mehr zu übersehen, was mancherorts wohl schon früher galt: Die AfD ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Oder die Mitte der Gesellschaft bei der AfD.

Kneipenbesitzer Rocho ist entschlossen, das nicht hinzunehmen. Er plant bereits das nächste Konzert einer linken Band in seiner Kneipe. Außerdem möchte er mit einigen Mitstreitern einen Verein gründen und neben Konzerten Bildungsarbeit anbieten. Er denkt nicht in Wahlperioden, sondern Generationen: „Ich bin vor sechs Wochen Vater geworden. Mein Kleiner soll wissen, dass wir uns gegen Rechts gewehrt haben“, sagt er. 

Sesselmann lädt zur Besichtigung ein

Auf politischer Ebene ist man mit anderen Dingen beschäftigt. Sesselmann hat einen Ausflug aller Kreistagsmitglieder zur Restabfallbehandlungsanlage Südwestthüringen vorgeschlagen, um sich über die Entsorgung zu informieren. Interessierte könnten sich bei ihm melden. 

„Ich bin sehr zufrieden”, sagt ein strahlender Sesselmann nach seiner ersten Kreistagssitzung als Landrat. Er habe viel mehr Zeit eingeplant. „Aber alle sind an einer guten Zusammenarbeit interessiert.” Er freue sich, auf das, was kommt. 

Gastwirt Rocho bekommt einige Tage nach Vereidigung und Interview Nachrichten. Er solle sich doch bitte neutral verhalten. 

19 Kommentare
Michael Schmitt-Boeger
Alle werden mit der AfD, mit dem Landrat der AfD zusammenarbeiten. Alles halb so schlimm wird man sagen. Wie man den Wählern der AfD begreiflich machen kann, das sie falsch liegen, muss die Aufgabe der demokratischen Parteien sein.