In einigen Punkten legt sie sich fest, doch viele Optionen bleiben offen: Ursula von der Leyen musste im Europäischen Parlament Rede und Antwort stehen. So schlug sich die Kandidatin für das EU-Spitzenamt.
Am Anfang wird Ursula von der Leyen persönlich. Sie sei in Brüssel geboren, habe im benachbarten Tervuren gelebt und zusammen mit Franzosen, Italienern und Niederländern die Europaschule besucht. "Das war mein erster Eindruck von Europa", sagt die 60-Jährige am Mittwoch vor Europaabgeordneten in Brüssel. Den Geist Europas habe sie gelebt und geatmet.
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Jahrzehnte später will von der Leyen zurück auf die Brüsseler Bühne. Seit einer Woche ist sie nominiert für das vielleicht mächtigste Amt der EU: Präsidentin der Europäischen Kommission. Und weil nicht nur die Kandidatin selbst, sondern auch das Europäische Parlament von der Personalie überrumpelt wurde, durchläuft sie nun eine hektische Werbetour von einer Fraktion zur nächsten in der Hoffnung auf Unterstützung bei ihrer Wahl nächste Woche.
Und alles live im Internet
Erstmals musste sie am Mittwochnachmittag nun öffentlich Farbe bekennen – in einer von den Liberalen im Internet übertragenen Anhörung. Nach einigen Minuten nervöser Anspannung findet die deutsche Verteidigungsministerin dabei den vertraut entschlossenen Ton. In einigen Punkten legt sie sich fest, doch hält sie sich viele Optionen offen. Nur niemanden verprellen wenige Tage vor der entscheidenden Abstimmung im Parlament.
Am Abend dann ist klar: Von der Leyen muss zittern. Die Sozialdemokraten und Liberalen im Europaparlament kündigten am Mittwoch an, eine Unterstützung von der Erfüllung von Forderungen abhängig zu machen. Die Grünen gaben hingegen bereits eine Entscheidung bekannt: Sie sprechen sich gegen die Wahl von Ursula von der Leyen zur neuen EU-Kommissionspräsidentin aus. "Entscheidung der Grünen Fraktion! Wir werden gegen von der Leyen stimmen", schrieb der deutsche Europaabgeordnete Sven Giegold am Mittwochabend. Beim Thema Klimaschutz sei von der Leyen "ohne Ambition" und bei der Rechtsstaatlichkeit in Polen, Ungarn, Malta "unklar" gewesen. "Vage Antworten statt europäischer Handlungswillen. Europa braucht eine stärkere, klarere Kommissionspräsidentin", hieß es in dem Text weiter.
Nur acht Tage hatte die Überraschungskandidatin seit ihrer Nominierung Zeit gehabt, sich in die Untiefen der EU-Politik einzuarbeiten. Ist ein klimaneutrales Europa schon 2050 machbar? Ist eine CO2-Steuer sinnvoll oder die Ausweitung des Europäischen Emissionshandels? Kann der Brexit vielleicht doch noch nachverhandelt werden? Geht das eventuell schneller mit dem Ausbau der Grenz- und Küstenwache Frontex? Muss der Binnenmarkt vertieft werden? Braucht es eine europäische Armee? Einen neuen Rechtsstaatsmechanismus?
Von der Leyen schlägt sich passabel bei all diesen Fachfragen und sendet einige wichtige Signale: Auf das Ziel einer klimaneutralen EU legt sie sich fest – so wie die Mehrheit im Parlament. Auf eine strikte Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit – die den Liberalen besonders wichtig ist. Auf eine mögliche Erweiterung der Euro- und der Schengenzone – auf die einige neuere Mitgliedstaaten hoffen.
Mehr Demokratie in der EU: "Brillante Idee"
Nahtlos wechselt die CDU-Politikerin zwischen Deutsch, Französisch und Englisch, lächelt entschlossen. Und sagt auch immer ein bisschen von dem, was ihre Gesprächspartner mit Sicherheit hören wollen. So nennt sie das liberale Anliegen einer "Demokratie-Konferenz" eine "brillante Idee", die sie vollen Herzens unterstützen könne. Bürgerdialoge, die in konkrete Gesetze und Reformen für mehr Demokratie münden sollen: "Ich werde mir das sehr gerne vornehmen", sagt von der Leyen.
Dann macht sie sich für einen neuen Spitzenkandidatenprozess stark, wohl wissend, dass das vielen Abgeordneten in allen großen Fraktionen ein wichtiges Anliegen ist. Denn diesmal haben die EU-Staats- und Regierungschefs eben nicht, wie vom Parlament gewünscht, einen der Europawahl-Spitzenkandidaten als Kommissionschef ausgewählt, sondern von der Leyen als Kandidatin aus dem Hut gezaubert. Auch deshalb ist ihre Position jetzt so wackelig, der Rückhalt bei den großen Fraktionen so fraglich.
"Ich weiß, dass wir natürlich einen holprigen Start hatten", sagt die Kandidatin. "Dessen bin ich mir absolut bewusst. Ich kann die Vergangenheit nicht heilen, es ist eine Tatsache." Will heißen: Tragt mir das nicht nach, ich kann nichts dafür.
Ein Nachteil, der auch zum Vorteil werden kann
Allerdings gibt gerade von der Leyens Situation als Kaltstarterin den Verfechtern des Spitzenkandidatenprinzips recht. Die beiden Hauptbewerber, Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei und Frans Timmermans von den Sozialdemokraten, mussten sich schon im Wahlkampf zu allen erdenklichen Fragen erklären, auch im deutschen Fernsehen, so dass man am Ende sagen konnte: Die Wähler kennen die Bewerber und wissen, was sie kriegen. Von Ursula von der Leyen wusste das bisher niemand.Die Fragerunde ist nicht aggressiv, eher sachlich und zugewandt, aber es wird schnell konkret. Beispiel Migrationspolitik. Dort tut sich in der EU der aktuell vielleicht größte Graben auf zwischen Ost und West, Nord und Süd. "Wir haben dazu bisher wenig von Ihnen gehört, obwohl es ein äußerst bedeutender Punkt für die Bürger ist", sagte eine liberale Abgeordnete.
"Ja, wir werden eine klare gemeinsame Definition brauchen", sagt darauf die CDU-Politikerin. "Was ist Asyl, wer hat Anspruch auf Asyl und wer nicht. Was ist illegale Migration und was ist legale Migration." Um die inneren Grenzen offen zu halten, müsse es eine starke Außengrenze geben. Das Ziel von zehntausend Männern und Frauen in der Grenzschutzorganisation Frontext müsse viel früher als 2027 erreicht werden. Und es müsse Investitionen in den Herkunftsländern der Migranten geben.
Die Liberalen und die Sozialdemokraten wollten sich nun in den kommenden Tagen festlegen, ob sie von der Leyen wählen. Dies hänge davon ab, ob von der Leyen ihre Forderungen aufnehme, sagte der liberale Fraktionschef Dacian Ciolos. Die Fraktionschefin der Sozialdemokraten, Iratxe García Pérez, kündigte an: "Unsere Gruppe wird erneut über die Wahl beraten. Wir werden nächste Woche eine Entscheidung treffen." Vor allem die 16 deutschen SPD-Abgeordneten im Europaparlament lehnen die Wahl von der Leyens ab.