Die Taliban verlangen Entschädigungszahlungen von Deutschland und wollen dafür vor internationale Gerichte ziehen. Die Islamisten drohen bei ausbleibenden Verhandlungen damit, mehr Flüchtlinge ins Land zu schleusen.
Seit dem Putsch der Taliban in Afghanistan ringt Deutschland um einen Umgang mit den neuen Machthabern. Offiziell hält die Bundesregierung an ihrer alten Doktrin fest: Deutschland verhandelt nicht mit den Taliban. In der Praxis lässt sich diese Haltung angesichts der furchtbaren sozialen Situation im Land und der wachsenden Zahl von Flüchtlingen nicht aufrechterhalten. Denn: Wer den Menschen im Land helfen will, kommt an den Taliban nicht vorbei.
Der Afghanistan-Experte Michael Lüders plädiert deshalb für einen pragmatischen Politikansatz: „Die Taliban haben die Macht und werden sie auch behalten. Eine Politik des Ausgrenzens, des Ignorierens macht die Situation für die afghanische Bevölkerung nicht besser.“ Zusätzlich könnten immer mehr Menschen auf die Idee kommen, das Land in Richtung Westen zu verlassen, sagt er.
Taliban bieten gegen Entschädigung Kooperation in Migrationsfragen an
Nach dem Sieg der Taliban vor zwei Jahren wollte der Westen das Signal senden: Die Putschisten werden geächtet, ihre Regierung nicht anerkannt, und der Stuhl in der Uno-Vollversammlung bleibt leer. Zwanzig Jahre waren die Nato und auch die Bundeswehr am Hindukusch im Einsatz. Sie verließen im August 2021 ein Land im Zerfall, die Bundeswehrmission gilt als gescheitert.
Jetzt erheben die Taliban Forderungen, begleitet von einer Drohung. In einem Interview mit der NZZ verlangt Migrationsminister Khalil Haqqani eine Entschädigung und Reparationszahlungen. Seine Regierung werde Deutschland auch vor internationalen Gerichten „zur Rechenschaft ziehen“, kündigte er an.
Die Taliban-Regierung wolle den Westen zwingen, „uns eine Entschädigung zu zahlen und bei der Rückführung der Flüchtlinge zu helfen. Die Deutschen haben eine moralische und eine rechtliche Verpflichtung, uns zu unterstützen“, sagte Haqqani. Gleichzeitig verwies er darauf, dass „eine Kooperation mit uns bei der Migrationsfrage“ Deutschland nutze.
Öffnen die Taliban die Grenze, wenn nicht verhandelt wird?
Wie ernst muss die Bundesregierung die Drohung aus Kabul nehmen? „Es ist vor allem der Versuch, eine Verhandlungsposition aufzubauen“, analysiert Lüders. „Die westlichen Länder sagen immer: ‚Wenn ihr die Frauenfrage nicht löst, werden wir keine Beziehungen aufbauen.‘ Die Taliban-Regierung erwidert jetzt: ‚Passt mal auf, auch wir haben Forderungen.‘“ Es gehe den Taliban darum, zu neuen politischen Verhandlungen zu kommen, sagt Lüders. Und natürlich stehe über allem die Drohung: „Wenn ihr unseren Forderungen nicht nachkommt, machen wir die Grenzen auf.“
Der Völkerrechtler Pierre Thielbörger hält ein Verfahren auf Entschädigung vor internationalen Gerichten allerdings für wenig realistisch. „Wie so oft in der internationalen Politik werden internationale Gerichte als Drohgebärden benutzt“, sagt der Jurist von der Ruhr-Universität Bochum. Generell gebe es zwei mögliche Zuständigkeiten bei solchen Verfahren, erläutert er.
Es könnte laut Thielbörger einerseits der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag gemeint sein, also das Gericht der Vereinten Nationen, das sich mit Streitigkeiten zwischen Staaten beschäftigt. Deutschland hat sich der zwingenden Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen. Diese greift allerdings nur im Verhältnis zu Staaten, die ihrerseits die Unterwerfung unter die volle Gerichtsbarkeit des IGH erklärt haben. Das hat Afghanistan nicht getan.

Andererseits könne auch der Internationale Strafgerichtshof (ICC) infrage stehen, der sich mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Individuen befasse, sagt er. Hier gebe es aber keine Anknüpfungspunkte. Dafür müsste es Individuen geben, die strafrechtlich verfolgt werden könnten.
Die Taliban brauchen Geld und hoffen auf den Westen
Nach dem Nato-Abzug wurde Afghanistan mit wirtschaftlichen Sanktionen überzogen. Hilfsgelder wurden gestoppt, die amerikanische Regierung ließ die Auslandskonten der afghanischen Regierung einfrieren, und das Land wurde von internationalen Zahlungssystemen abgeschnitten. „Die Taliban-Regierung hat keine Devisen. Gleichzeitig ist die soziale Situation im Land eine Katastrophe. Für die Taliban ist es faktisch unmöglich, die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern“, sagt Lüders. 97 Prozent der Menschen leben laut Angaben der Vereinten Nationen in Armut.
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Deshalb sucht die Taliban-Regierung händeringend nach Wegen, um an Hilfsgelder zu kommen. Ihre wirksamste Drohung an den Westen ist dabei, die Grenzen aufzumachen und eine neue Flüchtlingskrise auszulösen. So sagte auch Haqqani im NZZ-Interview: „Deutschland sollte die Hand ausstrecken. Wir werden sie gern annehmen.“
Die Zwangslage Deutschlands verdeutlichen auch folgende Zahlen: In der Bundesrepublik haben mehr als 286.000 Afghanen Asyl beantragt, 211.000 wurden als Flüchtlinge anerkannt. Insgesamt leben knapp 400.000 Afghanen in Deutschland. Gleichzeitig gelten rund 24.000 Afghanen als ausreisepflichtig, können aber nicht abgeschoben werden, weil Afghanistan nicht als sicheres Herkunftsland eingestuft ist.
Trotz Taliban-Herrschaft fließt weiter deutsches Geld nach Afghanistan
Das Auswärtige Amt sieht keinen Anlass, diesen Status zu ändern. Grund dafür seien die Missachtung von Frauenrechten und die Diskriminierung der Opposition sowie aller politischen Kräfte, die nicht im Sinne der Taliban agierten, sagte ein Sprecher auf Nachfrage.
Der Afghanistan-Experte Lüders meint, Deutschland müsse zunächst wieder eine diplomatische Vertretung in Afghanistan einrichten. „Die deutsche Botschaft muss aus Doha nach Afghanistan umziehen“, sagt er. China und auch Russland hätten ihre Botschaften in Afghanistan gelassen und hätten dadurch mehr Einfluss.

Die schwierige Situation Deutschlands im Umgang mit den Taliban wird auch bei den Hilfsleistungen deutlich. „Die Umsetzung der entwicklungspolitischen Maßnahmen vor Ort erfolgt ausschließlich regierungsfern über die Weltbank, Uno-Organisationen und Nichtregierungsorganisationen“, stellt das Bundesentwicklungsministerium klar. Mit Vertretern der Taliban-Regierung werde nicht zusammengearbeitet.
Im vergangenen Jahr standen 527 Millionen Euro für entwicklungspolitische Projekte und humanitäre Hilfe aus Deutschland für Afghanistan bereit. Viele Hilfsorganisationen fordern mehr Engagement, das nur mit den Taliban möglich sei.
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So langwierig wie die Suche nach einer Position im Umgang mit den Taliban läuft auch die Aufarbeitung des 20-jährigen Einsatzes der Bundeswehr, also von 2001 bis 2021. Der Bundestag hat dafür eine Enquête-Kommission eingerichtet. Ein Untersuchungsausschuss beschäftigt sich mit dem übereilten Abzug der Bundeswehr und der Evakuierung im August 2021. Auch dazu liegt noch kein Abschlussbericht vor.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung.