Suchtgefahr, Depression und Suizidgedanken Psychologin über digitale Medien: Mehr Prävention – sofort!

Von Wolfgang Bäumer | 18.08.2023, 14:00 Uhr

Die digitale Welt ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Die Psychologin Dr. Julia Brailovskaia mahnt vor exzessiver Mediennutzung und sozialen Netzwerken. Wie oft behauptet, schadet dies nicht nur jungen Menschen.

Die Dosis macht das Gift, sagte Paracelsus. Welche Gefahren die digitale Kommunikation birgt, erklärt Dr. Julia Brailovskaia, Privatdozentin für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum. Die mehrfach ausgezeichnete Psychologin erforscht unter anderem, wie Mobiltelefon und Social Media die seelische Gesundheit und die Entwicklung der Persönlichkeit beeinflussen, und entwickelt Strategien zur Vorsorge. Ihr Credo: Back to the roots.

Frau Dr. Brailovskaia, wie lange kommunizieren Sie täglich digital?

Höchstens eine Stunde, oft weniger.

Wie reagieren Sie auf Anrufbeantworter, Warteschleifen und Telefonansagen, wenn sie jemanden zeitnah sprechen möchten?

Ungeduldig, manchmal auch aggressiv.

Warum?

Das positive Feedback fehlt. Ich rede mit anderen Menschen lieber von Angesicht zu Angesicht, das ist natürlicher, schneller, direkter und einfacher. Ich möchte die Gestik, Mimik und die Gefühle meines Gegenübers wahrnehmen, das geht nicht über SMS und E-Mail, auch nicht über soziale Medien. Ob ich Texte und Bilder tausche oder Kommentare und Filme hochlade und mir Zeit für eine durchdachte Selbstdarstellung nehme – in beiden Fällen erkenne ich schwer oder gar nicht: Ist der Andere fröhlich, traurig, gestresst, müde, ironisch?

Mehr Informationen:

Dr. Julia Brailovskaia ist Privatdozentin für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Die mehrfach ausgezeichnete Psychologin erforscht unter anderem, wie Mobiltelefon und Social Media die seelische Gesundheit und die Entwicklung der Persönlichkeit beeinflussen, und entwickelt Strategien zur Vorsorge. Dr. Julia Brailovskaia studierte Psychologie an der RUB, promovierte in der Sozialpsychologie und habilitierte in der Klinischen Psychologie und Psychotherapie als eine der jüngsten Habilitandinnen der vergangenen zwanzig Jahre.

Und wenn ein Rückruf oder eine Antwort ausbleiben?

Dann mache ich mir keine Sorgen. Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl können aber leicht in eine Negativschleife geraten: Ich störe, ich werde nicht gemocht, ich bin egal, die Info ist unangenehm.

Soziale Netzwerke geraten offiziell zunehmend in Verruf. US-Gesundheitsbehörden warnen inzwischen vor Risiken für junge Menschen. Die Europäische Union verpflichtet Plattformen wie Facebook und Youtube, illegale Inhalte und weitere gesellschaftliche Risiken zu vermeiden. Die Bundesregierung plant ein digitales Gewaltschutzgesetz, um Hass und Hetze im Web einzudämmen. Was halten Sie von solchen Maßnahmen?

Sie sind auf jeden Fall ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Einerseits ist die Hemmschwelle für Entgleisungen online niedriger als offline. Wenn ich Hassbotschaften verbreite, sehe ich das Opfer nicht. Ein Knopfdruck reicht, um Nachrichten, auch falsche, rasend schnell zu verbreiten und sehr viele Menschen zu erreichen. Wenn Freunde etwas teilen, steckt mich das womöglich an, und ich teile es auch, ohne darüber nachzudenken.

Der Wunsch, möglichst oft positiv bewertet zu werden, also viele Likes zu bekommen, provoziert zur übertriebenen Selbstdarstellung und fördert unter anderem auffällige Verhaltensweisen, die man offline nicht zeigen würde. Andererseits: Wir brauchen die digitale Welt, wenn wir beruflich und privat nichts verpassen wollen, und sei es nur, um Menschen, die weit weg leben und arbeiten, schnell, effektiv und synchron erreichen zu können.

Immer mehr Jugendliche kommunizieren digital. Was macht das mit ihrer Seele?

Intensive Mediennutzung kann nachweislich der psychischen Gesundheit schaden. Sie macht anfälliger für Angststörungen, Depressionen, Suizidgedanken und unsoziales Verhalten, je nachdem, was wir konsumieren. Zugleich leidet die emotionale Intelligenz: die Fähigkeit, eigene Gefühle und die Anderer wahrzunehmen, zu verstehen und damit umzugehen. Die Folgen exzessiver Mediennutzung sind in allen Altersgruppen gleich, auch zwischen 50 und 60 Jahren, dort aber schwächer ausgeprägt.

Und bei jüngeren Teilnehmern?

Hier beobachten wir unter anderem eine stärkere Neigung zum vergeblichen Nacheifern überzogener Schönheitsideale und zur so genannten Instagram-Dysphorie, die traurig, bedrückt, missgelaunt und gereizt macht. Wie unsere Untersuchungen zeigten, hat sich vor allem während der Pandemie die psychische Gesundheit verschlechtert, während sich die Nutzungszeit für Medien signifikant erhöhte, weil viele Offline-Interaktionen nur noch online stattfinden konnten. Mit der steigenden Nutzungszeit bei sozialen Medien hat auch die suchtartige Nutzung zugenommen.

 Lassen sich solche Folgen beheben oder rückgängig machen?

Um dies herauszufinden, bräuchten wir mehr experimentelle Längsschnittstudien, doch leider fehlen dafür oft die Forschungsgelder. Gesichert ist, dass wir Kindern und Jugendlichen einen Ausgleich zur digitalen Welt bieten müssen, damit sie ihre positiven Emotionen nicht nur online beziehen. Wir müssen sie mit alternativen Angeboten in die reale Welt zurückholen. Experimente zeigen: Wenn wir bei Probanden kontrolliert und schrittweise die Zeit der Mediennutzung reduzieren und ihnen als Ersatz Sport und Achtsamkeitsübungen anbieten, entwickeln sie positive Gefühle, und ihre psychische Gesundheit verbessert sich.

Was empfehlen Sie, um das Selbstmordrisiko vor allem für junge Mädchen zu senken, die, wie in Norwegen geschehen, zur Suizidschwärmerei auf Facebook führen kann?

Wir brauchen mehr Medienkompetenz auf alle Ebenen. Eltern müssen die Nutzung sozialer Medien bei ihren Kindern im Blick behalten, sie müssen wissen, was ihre Kinder online tun, und offen mit ihnen darüber sprechen. Sie müssen sie in beiden Welten, offline und online, vor potentiellen Gefahren schützen. An Schulen, jenen Orten, wo Kinder und Jugendliche viel Zeit verbringen, brauchen wir ebenfalls entsprechende Angebote für die Lehrer- und Schülerschaften, am besten als Teil des Curriculums.

Was verstehen Sie unter Medienkompetenz?

Die Fähigkeit, zu verstehen, wann es sinnvoll ist, Medien zu nutzen, zu wissen, welche Vor- und Nachteile sie haben, und zu akzeptieren, dass sie nur ein Werkzeug sind, das uns hilft, etwas zu vermitteln, mehr nicht. Sie dürfen nicht zum Selbstzweck werden, schon gar nicht zum Lebensmittelpunkt. Ich vergleiche das mit dem Autofahren: Mein Auto ist ein Werkzeug, das mich von A nach B bringt, aber nicht mein Freund. So ist es auch mit den Medien. Mir sträuben sich die Haare, wenn ich Kinder im Kinderwagen mit einem Smartphone sehe. Es fehlt an der Einsicht und Umsetzung, dass Medien der Gesundheit ähnlich schaden können wie Zigaretten, Alkohol und andere Rauschmittel.

Was tun, um den digitalen Risiken und Gefahren zu entkommen?

Ganz einfach: Back to the roots! Die digitale Kommunikation können wir nicht ausschalten, wir brauchen sie in zu vielen Bereichen. Die Gefahren können wir aber kontrollieren, indem wir klare Regeln aufstellen, wann und wie lange wir digitale Medien nutzen.

Was muss jetzt vor allem erforscht werden?

Um Kinder und Jugendliche besser schützen zu können, brauchen wir sofort mehr Hilfen für Betroffene, mehr experimentelle Studien und mehr Prävention. Gemessen am Tempo des digitalen Fortschritts dauert es zu lange, bis Projekte ins Rollen kommen. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass Anträge abgelehnt wurden, wenn es um die Prävention potentieller negativer Folgen der digitalen Mediennutzung geht. In den Köpfen der Menschen muss noch viel passieren, damit Prävention im Zusammenhang mit problematischer Mediennutzung als wichtig anerkannt wird.

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