Mit „Mystic River“ und „Shutter Island“ hat Dennis Lehane Weltbestseller geschrieben. Sein neuer Roman handelt vom Rassismus im Boston der 70er-Jahre. Im Interview spricht er über politischen Hass, das N-Wort und eine Debattenkultur, in der man von beiden Seiten niedergebrüllt wird.
Die Krimis von Dennis Lehane spielen in den schäbigen Vierteln von Boston. Seine Antihelden sind oft Migranten, die alle dieselbe Erfahrung teilen: Ausgrenzung durch die bessere Gesellschaft. Und trotzdem kämpfen sie nicht gegen den gemeinsamen Gegner – und bekriegen sich gegenseitig. Diese Konstellation bringt das Gesellschaftsbild von Dennis Lehane auf den Punkt: Die Reichen, sagt er, sichern ihre Privilegien, indem sie die Ausgebeuteten gegeneinander aufhetzen. Ist der Kapitalismus die Ursache des Rassismus? Ein Gespräch:
US-Präsidenten lieben Dennis Lehane
Mr Lehane, Ihr neuer Roman steht auf Barack Obamas Sommer-Leseliste. Wie viele Flaschen Champagner hat Ihr Verleger Ihnen geschickt, als diese Liste rauskam?
Keine einzige! Es hilft dem Buch offenbar. Aber ich kümmere mich nicht um meine Verkaufszahlen. Ich schreibe einfach nur die Bücher. Allerdings weiß ich, dass Präsident Obama schon unsere Serie „The Wire“ mochte. Also freue ich mich über die Zustimmung von einem Menschen mit Geschmack. Am selben Tag Geburtstag haben wir übrigens auch.
Stimmt es, dass Sie zum Bestseller-Autor wurden, als Bill Clinton mit einem Ihrer Bücher in der Air Force One fotografiert wurde?
Das hat mich den Leuten bekannt gemacht, aber nicht zum Bestseller. Kurz danach hat mich auch noch Stephen King in der „Sunday New York Times Book Review“ empfohlen, dann habe ich „Mystic River“ geschrieben und erst dann ging es durch die Decke.
Dennis Lehane kommt am 4. August 1965 in der US-Metropole Boston als Kind einer irischstämmigen Familie zur Welt. Hier wächst er im Arbeiterviertel Dorchester auf – dem Ort, an dem später auch seine Thriller spielen. Den literarischen Durchbruch erlebt er 2001 mit „Mystic River“, einem verschlungenen Krimi um Kindesmissbrauch und Rache. 2003 wird Clint Eastwoods Verfilmung mit zwei Oscars belohnt. 2009 adaptiert dann Martin Scorsese den Psychothriller „Shutter Island“; die Hauptrolle übernimmt Leonardo DiCaprio. Lehane arbeitet auch selbst als Drehbuchautor, etwa bei der renommierten Serie „The Wire“ und der Stephen-King-Verfilmung „Mr Mercedes“.
Lehanes neuer Roman „Sekunden der Gnade“ führt ins Boston des Jahres 1974. Schüler weißer und schwarzer Viertel sollen per Bustransfer die Schulen tauschen. Was als Maßnahme gegen die Rassentrennung gedacht ist, löst allerdings erst recht rassistische Proteste aus. In der aufgeheizten Stimmung wird ein schwarzer Student ermordet. Wenig später verschwindet die Tochter der irischstämmigen Mary Pat. Auf ihrer Suche findet die Mutter nicht nur die Wahrheit über ihre Tochter heraus; sie begreift auch etwas über die eigene Verstrickung in den Hass ihrer Zeit. Lehandes „Sekunden der Gnade“ ist bei Diogenes erschienen und kostet 26 Euro.
„Sekunden der Gnade“: Lehanes harter Rassismus-Krimi
Ihr neuer Krimi „Sekunden der Gnade“ spielt im Boston des Jahres 1974, als die Stadt den Rassismus bekämpfen wollte – indem schwarze Kinder in weiße Stadtteilschulen versetzt wurden und weiße in schwarze.
Stimmt.
Dagegen gab es rassistische Aufmärsche. Und im Vorwort beschreiben Sie, wie Sie als Neunjähriger da mitten hineingeraten sind.
Ich wollte mich mit etwas auseinandersetzen, dem ich mein Leben lang ausgewichen bin: dem Hass und Rassismus in meiner Kindheit. Als meine eigenen Kinder neun Jahre alt wurden, habe ich mich gefragt: So klein war ich also, als ich Ku-Klux-Klan-Graffiti an den Wänden gesehen habe? In diesem Alter habe ich Leute Steine auf Busse werfen sehen, in denen Kinder saßen? Mein Buch ist eine Abrechnung mit dieser Zeit. Und es stecken eine Menge Ärger und Trauer darin, die lange in mir begraben waren.

Haben diese gewalttätigen Proteste zum ersten Mal klargemacht, dass Rassismus überhaupt existiert?
Rassismus war allgegenwärtig; aber das vermischte sich mit etwas, das ich „Europäismus“ nenne – die Frotzeleien, mit der sich Deutsche vielleicht über Franzosen und Franzosen über Polen mokieren. Wenn es um Afro-Amerikaner ging, wurde der Tonfall aber finster und wütend. Den Unterschied habe ich erst mit neun Jahren erfasst. Da sollten schwarze Kinder mit dem Bus in unsere Viertel gebracht werden – und die Antwort war: Verdammt, das lassen wir uns nicht bieten. Das hat mir die Augen geöffnet.
Hat Sie das „Busing“, also der Bustransfer zwischen schwarzen und weißen Vierteln, Sie als Schüler persönlich betroffen?
Mich nicht, ich war auf einer katholischen Privatschule. Meine älteren Brüder waren auf öffentlichen Schulen und kamen in die Schulbustransporte. Die „Busing“-Krise hatte mehrere Aspekte: Das Eine war die Bekämpfung der Rassentrennung – die absolut nötig war und es immer noch ist. Das Andere war die Methode, ein selektives Programm, das nur die armen Viertel betraf. Mein Vater war kein Rassist, aber auch er hat gefragt: Warum fällen Politiker Entscheidungen, die nur uns betreffen, aber nicht sie selbst? Diese Frage war legitim. Das kranke Ausmaß an Rassismus, mit dem sie gestellt wurde, war aber unentschuldbar

Lehane: Rassismus nutzt dem Kapitalismus
Inwiefern strahlt das für Sie in die Gegenwart aus?
Auf der Welt werden die Ressourcen knapp. Wir sind mit einer globalen Migration konfrontiert. Und die Reichen verteidigen ihren Besitz, indem sie die Ärmsten damit beschäftigen, gegeneinander zu kämpfen. Am einfachsten geht das über den Rassismus. Man muss einfach nur sagen: Ihr seid nicht arm, weil wir die ganzen Ressourcen für uns behalten; ihr seid arm, weil die Immigranten euch die Arbeitsplätze wegnehmen. Die Strategie ist dreist und wird seit Hunderten von Jahren durchgezogen.
Wird Rassismus heute wieder mehr instrumentalisiert?
Vor 50 Jahren waren die USA fast zivilisierter als heute – mit der entscheidenden Einschränkung: Damals war es ein weißes Land. Menschen mit dunklerer Haut waren Nebendarsteller; das wurde nicht ansatzweise infrage gestellt. Das Modell steht vor dem Aus; und wie jeder Organismus, der um sein Leben kämpft, wird die weiße Identitätspolitik jetzt richtig hässlich: in Frankreich, in Polen, in Weißrussland, wo auch immer. Es gibt ein hässliches Bedürfnis, sich für besser als die anderen zu halten, egal, wer diese Anderen sind. Dieses Gefühl wird gerade auf der ganzen Welt instrumentalisiert.
Über das N-Wort in „Sekunden der Gnade“
Ihre Figuren lassen Sie bewusst das N-Wort benutzen. Gab es darauf negative Reaktionen?
Wir haben mit einer massiven Reaktion gerechnet, aber es kam nichts. Ich wollte die Welt, in der ich aufgewachsen bin, authentisch schildern. Die rassistische Sprache abzumildern, wäre hochgradig unaufrichtig gegenüber dem, was damals los war.
Gegen den zitierenden Gebrauch des N-Worts wird oft gesagt: Es retraumatisiert. Aber gilt das nicht für jede Schilderung von Rassismus, auch ohne die Vokabel? Kann man überhaupt über Rassismus sprechen, ohne dass es wehtut? Den Opfern des Rassismus, aber auch Weißen, die sich ihrem Alltagsrassismus stellen müssen?
Ich sehe das genauso. Aber die Welt polarisiert sich, und man kann über nichts mehr reden. Man wird von beiden Seiten niedergebrüllt. Selbst der Versuch, über schmerzhafte Themen zu reden, gilt auf einmal als Sünde. Ich habe mal diesen Satz geschrieben. „Jede irische Familie hat eine Liste mit Dingen, über die man nicht spricht; das Problem ist, dass auch die Liste selbst auf der Liste steht.“ Heute gilt das für die ganze Welt. Und das kotzt mich an.

Hoffen auf ein Ende des Hasses
Stimmt mein Eindruck: Ihr Roman kennt nur ambivalente Charaktere?
Weil die Menschen so sind. Meine Töchter haben mal von einem Mädchen erzählt, das sie am einen Tag gemobbt hat und am nächsten wieder nicht. Das Schwierigste daran, ein Mensch zu sein, habe ich ihnen dann gesagt, ist es, diese Sache zu akzeptieren: Es steckt nicht nur in guten Leuten etwas Böses; in bösen Leuten steckt auch etwas Gutes. Ich selbst kriege das schwer in meinen Kopf. Und deshalb schreibe ich so, wie ich schreibe.
Es gibt in Ihrem neuen Buch nur ganz wenige Figuren, die den Rassismus überwinden. Aber es gibt sie. Sagt das nun etwas über Ihren Optimismus aus oder über Ihren Pessimismus?
Ich bin in einer sehr rassistischen Gesellschaft aufgewachsen. Trotzdem kenne ich jede Menge Leute, die keine Rassisten sind – mich eingeschlossen. Also bin ich optimistisch.