Dass eine Autorin sich ein Alter Ego erschafft, ist nicht ungewöhnlich. Doch Marlene Streeruwitz geht in ihrem neuen Roman „Nachkommen.“ weiter. Ihre geistige Tochter Nelia Fehn ist darin mit „Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland“ für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Der Titel wird Ende September tatsächlich auf dem Buchmarkt erscheinen. Auf der Internetseite des S. Fischer Verlags ist der Roman von „Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn“ bereits angekündigt. So könnte Streeruwitz am Ende beim Buchpreis mit ihrer eigenen Erfindung konkurrieren. Vorausgesetzt, beide Titel werden nominiert.
„Nachkommen“ allein betrachtet ist ein Roman in typischem Streeruwitz Stil: viele Punkte, wenige Kommata. Die 1950 geborene Österreicherin entwickelt mit ihren Halbsätzen und Wiederholungen einen Bewusstseinsstrom mit ganz eigener Sogwirkung. „Das Gefühl, am Grund einer Flüssigkeit zu schweben. Einer tintigen Flüssigkeit. Geschwommen zu werden“, heißt es, als Nelia sich in der Leichenhalle von ihrem verstorbenen Großvater verabschiedet. Mit ihm hat sie ihren letzten Verbündeten unter ihren österreichischen Verwandten verloren. Ihre Mutter, ebenfalls Schriftstellerin und auch ein Alter Ego von Streeruwitz, ist längst tot. Die Halbgeschwister sind ins Ausland gezogen. Nelia wirkt völlig schutzlos. Streeruwitz lässt sie mit nichts als einem Hosenanzug, einem Rucksack und ohne Geld durch Frankfurt ziehen. Das ist auch eine Aussage über den Zustand der Literatur. Zumal Nelias Verleger sie in einem schäbigen Hotel unterbringt und ihr nur dann ein Taxi gönnt, wenn alle hingucken. Der Literaturbetrieb kämpft um seine Existenz, inszeniert sich aber bei der Preisverleihung glamourös wie eine Oscar-Nacht.
Hilflos ist die Jungautorin nicht wirklich, sondern rebellisch. Sie schreibt über die Krise in Griechenland und befasst sich kritisch mit der Vergangenheit ihrer Familie. Tatsächlich liefert Streeruwitz eine Art Coming-of-Age-Geschichte, in der eine junge Frau ihren eigenen Weg finden muss.
Die Mutter ist tot und war nicht immer ehrlich zu ihr; ihr leiblicher Vater ein Don Juan, der nie ein Kind wollte. Nelia bleibt nur, sich abzugrenzen. „Ich lehne jede Verantwortung für alle diese Erbschaften ab, mit denen ich belastet werde“, sagt sie im Fernsehinterview.
Nun bleibt abzuwarten, ob das Debüt dieser fiktiven Autorin tatsächlich so radikal ist. Was Marlene Streeruwitz treibt, bleibt dabei im Dunkeln. Will sie sich verjüngen? Originell und gewitzt ist ihr Spiel auf jeden Fall. Noch spannender wäre aber gewesen, Nelia Fehns Roman wäre erschienen, ohne die tatsächliche Autorenschaft bekannt zu geben.
Wie hätte der Literaturbetrieb das vermeintliche Debüt aufgenommen? Und wie reagiert, wenn die Wahrheit ans Licht gekommen wäre? Oder gibt es gar eine wirkliche Nelia Fehn, die sich hinter Marlene Streeruwitz verbirgt?
Marlene Streeruwitz: „Nachkommen“. Roman. Erschienen im S. Fischer Verlag. 19,99 Euro.