Kultur Fernbedienung für den Kopf

04.10.2006, 22:00 Uhr

Er ist der Kronprinz der deutschen Soziologie, forscht mit Jürgen Habermas am Max-Planck-Institut Sozialwissenschaften in Starnberg, steht später gar dem berühmten Frankfurter Institut für Sozialforschung vor. Doch den Nachfolger von Max Horkheimer trifft im Alter von 46 Jahren eine furchtbare Diagnose: Er ist an Parkinson erkrankt.

13 Jahre später hat Helmut Dubiel, der heute in Gießen lehrt, ein Buch über seine Krankheit geschrieben. "Tief im Hirn" ist jedoch kein rührseliger Erfahrungsbericht, sondern ein nüchtern beschriebener Erkundungsgang an der Grenze zu dem gerade heraufziehenden Zeitalter, das den Menschen zur bloßen Funktion von Apparaten machen könnte. Doch was bleibt dann von der für die Moderne grundlegenden Idee des autonomen Menschen?

Zunächst einmal das, was die Krankheit von ihm übrig lässt. "Das Leben gleicht sich dem einer Pflanze an. Es ist stumm, ohne Transzendenz und Autonomie", beschreibt Dubiel nicht nur die Auswirkung der Krankheit, sondern ex negativo auch, was den Menschen zum Menschen macht - seine Fähigkeit zur permanenten Selbsterfindung im Medium der Kultur. Dabei bleibt jedes Individuum jedoch auf soziale Kontakte angewiesen. Und Dubiel schildert in ernüchternder Eindringlichkeit, wie all das versagt, was den Kranken schützen sollte. Die Medizin? Ein nur am eigenen Erhalt interessiertes System, das den Patienten notfalls zum Testobjekt macht. Der Wissenschaftsbetrieb? Eine Arena voll unaufrichtiger Rituale und fruchtloser Debatten. Und die Mitmenschen? Die sind in Dubiels Sicht unfähig zu wahrer Hilfe. Gerade nahestehende Personen wenden sich ab, der Sohn reagiert distanziert und - welche Überraschung - Männer erweisen sich im Vergleich zu den Frauen als die sensibleren Helfer.

Doch Dubiels Bericht führt noch viel weiter. Unter dem Druck von Symptomen, die ein soziales Leben unmöglich machen, beschließt der Soziologe, sich ein Gerät zur Hirnstimulation einsetzen zu lassen. Tief im Kopf dämpfen nun Impulse eines Apparats chaotische Hirnbefehle, die nach außen als zappelige Bewegungen sichtbar werden. Der Preis ist allerdings hoch. Wenn der Impulsgeber arbeitet, versagt Dubiels Sprachfähigkeit. Seine Lösung: Er schaltet das Gerät je nach Bedarf an und aus, steuert Leistungsfähigkeit und Befinden per Fernbedienung.

Ruhig erscheinen, aber nicht geordnet sprechen können. Oder die Sprachfähigkeit erlangen, dafür aber panische Körperreaktionen fürchten müssen - der medizinische Fortschritt stellt den brillanten Intellektuellen vor eine fürchterliche Alternative. Dubiel gibt auch unter diesem Druck die Verantwortung für das eigene Leben nicht preis. Und er schildert, dass es manchmal doch nicht der Apparat ist, der den Menschen stützt. Kurz nach der Hirnoperation richten ihn Verdi-Arien wieder auf, hält ihn die Stimme der Callas im Leben. Welch ein Trost.